Sein letzter Fall - Fallet G
für ein Gefühl ist es, die eigene kleine Schwester zu vergewaltigen? Fühlt man sich irgendwie gut anschließend?
Es folgte ein langes Schweigen auf dem Band. Nur das Geräusch Jaan G. Hennans, der sich eine Zigarette anzündete, und das von Reinhart, der leicht nervös mit einem Stift auf den Tisch klopfte. Van Veeteren schaltete aus.
Mehr will ich nicht hören, dachte er. Reinhart kann sich den Rest anhören und sehen, ob er etwas herausbekommt.
Herausbekommt?, fragte er sich gleich danach. Wonach sollte man eigentlich beim Zuhören suchen?
Nach einem unabsichtlichen Versprecher?
Etwas, was G. herausgerutscht war, obwohl er es gar nicht wollte?
Eine Information, die weiterführen oder zumindest andeuten konnte, in welcher Richtung sie suchen sollten?
Er glaubte es nicht. Ehrlich gesagt glaubte er nicht daran, das musste er sich eingestehen, und ehrlich gesagt war er mit G. in diesem Punkt einer Meinung. Diese Verhöre – Gespräche – waren sinnlos.
In Anbetracht der Voraussetzungen.
Sie
wussten,
dass G. hinter dem Tod seiner Frau steckte.
Und G.
wusste,
dass sie es wussten.
Es würde ihm nicht einmal nennenswert schaden, wenn er sich verplapperte und zugab, dass er es getan hat, dachte Van Veeteren. Das Einzige, was ihm schaden würde: wenn sie herausbekamen,
wie.
Oder
wer
? Wenn G. der Name seines Helfers herausrutschen würde, den er ja wohl – wenn man alles in Betracht zog – gehabt haben musste?
Auf so etwas zu hoffen, das erschien fast schwachsinnig.
Er machte das Licht an und nahm das Band aus dem Gerät. Suchte eine Weile zwischen den Platten und blieb schließlich bei Bartóks zweitem Klavierkonzert hängen. Er wusste, er war gezwungen, auch die ganze Christa-Geschichte noch einmal zu überdenken, es war an der Zeit, und dazu gab es kaum eine bessere Begleitung als Bartók.
Es gab da nicht nur Adam Bronstein, es hatte auch noch Christa Koogel gegeben.
Christa Koogel, die einen Raum in ihm geöffnet hatte, von dem er nie gewusst hatte, dass es ihn gab. Den Raum der Liebe. Einen Ort und einen Zustand, an dem es möglich war, eine Frau zu lieben und geliebt zu werden. Fern von… wie hatte er das noch genannt?… von dem Ursumpf des Daseins?
Er war einundzwanzig gewesen, sie neunzehn. Vier Monate lang – einen Sommer lang und noch ein bisschen länger – hatten sie in diesem… diesem Zauberkreis intensivierten Lebensgefühls gelebt. Ja, er fand keine anderen Worte als diesen feierlichen Notbegriff. Ein Dasein, wie es ihm damals schien, in dem jede Aufgabe, jede Handlung, jeder Blick und jede Berührung, jede alltägliche Beschäftigung mit einem zutiefst bedeutungsvollen und magischen realen Inhalt gefüllt wurde.
Immer und immer wieder. Allein zu wissen, dass sie sich in seiner Nähe befand, in der gleichen Stadt und im gleichen Leben, dass es immer wieder möglich war, die Hand auszustrecken und ihren Arm oder ihren Rücken zu berühren und dafür ihren bestätigenden Blick zu erhalten, hatte ihm ein unbegreifliches Gefühl von Leichtigkeit und Unverwundbarkeit gegeben. Und
Schwere.
Einundzwanzig und neunzehn.
Sie zu küssen, ihre Bereitwilligkeit zu spüren und ihre nackte Haut, vorsichtig mit dem Handrücken ihren ausgestreckten Arm entlang bis zur Achselhöhle zu streichen, dann weiter über die Brust und ihren sich weich wölbenden Bauch… er konnte sich immer noch – nach fast dreißig Jahren, das war ja wohl unglaublich! – die körperliche Empfindung gerade dieser Bewegungen und Berührungen ins Gedächtnis rufen. Seine linke Hand, ihr rechter Arm.
Der rote Raum der Liebe. Die Leichtigkeit und die Schwere. Gut einen Sommer lang. Dann kam ihr Zögern, und er lernte etwas anderes kennen. Das schwarze Loch der Abwesenheit. Zurück auf Start.
Sie machten nie Schluss. Das war nicht nötig.
Beschlossen einfach nur, sich nicht mehr so oft zu treffen. Sie musste über ihre Gefühle nachdenken. Eine Woche später sah er sie in einem Café. Er sah sie, sie sah ihn nicht. Ihre Augen waren mit etwas anderem beschäftigt. Sie saß an einem Tisch zusammen mit einem jungen Mann, einem anderen jungen Mann. Sie tranken Wein und hatten die Köpfe dicht zusammengesteckt. Sie unterhielten sich lachend. Er hatte seine Hand auf ihre gelegt. Beide rauchten, auch sie, die doch nie geraucht hatte, während sie mit ihm im roten Raum der Liebe gewesen war. Da hatte sie höchstens mal einen Schluck Wein getrunken. Der neue Mann war G.
Sie machten nie Schluss. Das war nicht nötig.
Und durch
Weitere Kostenlose Bücher