Sein letzter Fall - Fallet G
allen normal beschaffenen Frauen (wie der Kommissar mit einem Seufzer des Bedauerns feststellte) eine leise biologische Stimme bemerkbar, die flüsterte, dass es sich ja dann wohl, wenn man alles in Betracht zog, doch um keinen Ehegattinnenmörder handeln konnte.
Rechtsanwältin Van Molde selbst ging auf diesen Aspekt nicht näher ein, aber dennoch sparte sie nicht an ihrem Pulver. Eine gute halbe Stunde lang widmete sie sich stattdessen der Aufgabe aufzuzeigen, dass diese so genannte Anklage wie ein schlecht gestapeltes Kartenhaus ohne auch nur einen einzigen Trumpf in sich zusammenfallen würde. Sie beschrieb ihren Mandanten, den angeklagten Jaan G. Hennan, als einen rechtschaffenen und ehrlichen Mann, der einen unmenschlichen Verlust erlitten hatte – und das zum zweiten Mal! Und der, statt auf der Anklagebank zu sitzen und seine Ehre verteidigen zu müssen, umgehend freigelassen werden müsste, um sich seiner Trauerarbeit widmen zu können. Dies war eine Frage des Anstands. Er war auf die tragischste Art und Weise seiner Ehefrau beraubt worden, und es war ein Skandal, dass man ihn – ohne auch nur einen Funken eines Beweises! – vor Gericht gestellt hatte, und vor diesem Hintergrund gab es nur eine einzige Handlungsmöglichkeit, die wieder ein gewisses Vertrauen in das Rechtsdenken und die Gerichtsbarkeit herstellen konnte. Dass man umgehend die Anklage niederlegte und den Angeklagten freiließ.
Münster konnte auch nach Aufstellung dieser Forderungen bei den Geschworenen keine offensichtlichen Reaktionen erkennen, und Richter Hart legte die Anklage nicht nieder. Stattdessen wechselte er wieder die Brille, gähnte und erklärte, dass es Zeit für die Mittagspause sei. Die Verhandlung sollte um zwei Uhr wieder aufgenommen werden.
Während der Nachmittagssitzung verbrachten Kommissar Sachs und Van Veeteren jeweils ungefähr eine halbe Stunde auf dem Zeugenstuhl. Sachs berichtete detailliert von seinem Vorgehen und dem des Polizeianwärters Wagner in jener Nacht, als Barbara Hennan tot aufgefunden worden war, und Van Veeteren präsentierte ein Bild der weiteren Umstände des Falls. Er berichtete von der dubiosen Rolle des Privatdetektivs Verlangen, von Hennans Hintergrund, von der Geschichte mit Philomena McNaught und brachte die Sache mit der Versicherung zur Sprache. Münster konnte sehen, dass der Kommissar sich nicht besonders wohl fühlte, weder während der gezielten Fragen des Staatsanwalts noch bei dem leicht arroganten Tonfall der Verteidigerin, die versuchte, die Bearbeitung des Falls durch die Polizei als reinen Dilettantismus darzustellen.
»Aber warum um Himmels willen haben Sie nicht die Ermittlungen eingestellt, nachdem es Ihnen nicht geglückt war, auch nur den geringsten technischen Beweis zu finden?«, fragte sie bei einer Gelegenheit.
»Weil wir bei der Kriminalpolizei es als unsere Aufgabe ansehen, Mörder festzusetzen«, antwortete Van Veeteren. »Im Gegensatz zu Ihnen, Frau Van Molde, die Sie ihn laufen lassen wollen.«
Dann war Meusse an der Reihe. Falls das noch möglich war, gefiel es ihm noch weniger als dem Kommissar, auf dem Zeugenstuhl zu sitzen – obwohl Münster sich nicht daran erinnern konnte, jemals erlebt zu haben, dass dem introvertierten Gerichtsmediziner überhaupt etwas gefiel. Unter keinen Umständen. Auf jeden Fall berichtete er glasklar über die unklare Lage. Es gab nichts, was unterstrich, dass Barbara Hennan von dem Sprungturm gestoßen worden sein sollte, und nichts, was bestätigte, dass sie vorher bewusstlos geschlagen worden war. Andererseits gab es auch nichts, was sowohl der erstgenannten Annahme als auch der letztgenannten widersprach. Die Verletzungen an Kopf, Hals, Nacken und Rückgrat waren umfassend, erklärte Meusse, und ein leichter Stoß in den Rücken hinterließ nur selten Spuren. Im Allgemeinen nicht und auch nicht in diesem Fall.
Weder der Staatsanwalt noch die Verteidigerin hatten besonders viele Fragen an den Gerichtsmediziner, da beide sozusagen eine carte blanche für ihre jeweiligen Auffassungen erhalten hatten, und Meusse konnte seinen Platz nach weniger als einer Viertelstunde verlassen. Obwohl es erst halb vier war, erklärte der Richter Hart nunmehr die Arbeit für abgeschlossen. Er wünschte allen einen angenehmen Abend, ermahnte die Geschworenen, den Fall nicht untereinander oder mit anderen Personen zu diskutieren, und erwartete, dass sich alle Beteiligten am folgenden Tag um zehn Uhr wieder an derselben Stelle einfinden
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