Sein letzter Trumpf
hatte sich bei ihr der Flüssigkeitsmangel allmählich bemerkbar gemacht. Sie hatte es schon auf der Fahrt nach Albany in dem Lieferwagen gemerkt, hatte aber nicht gewagt, etwas dagegen zu unternehmen, weil sie ja noch den ganzen langen Abend vor sich hatte. Sie hatte in dem Ding gehockt und sich immer schlechter gefühlt, und was sie jetzt am meisten fürchtete, war ein trockenes Würgen; und trocken würde es weiß Gott sein.
Abgesehen von dem körperlichen Unwohlsein hatte sie jedoch keine Probleme mit diesem Job. Seit sie und Tommy sich getrennt hatten, war es schwerer, Leute zu finden, mit denen sie sich zusammentun konnte, deshalb war Geld oft ein Problem gewesen. Doch das würde mit diesem Abend zu einem Großteil gelöst.
Und noch etwas Gutes hatten ihre derzeitigen Kompagnons:Keiner von ihnen bildete sich ein, sie anmachen zu müssen. Parker hatte seine Claire, und die anderen drei hatten anscheinend kapiert, dass sie einfach nur ein weiteres Mitglied des Teams war und alles den Bach runtergehen würde, wenn einer von ihnen in der Hinsicht ausflippte. Außerdem wussten sie wahrscheinlich, dass sie schwierig werden konnte, wenn sie sich belästigt fühlte; vielleicht hatten sie sogar von dem Typ in St. Louis gehört, dem sie in die Kniescheibe geschossen hatte.
Wahrscheinlich wäre es rundum das Beste gewesen, sich einen neuen Kerl zu suchen, mit dem sie sich hätte zusammentun können, aber sie war vor Tommy zurechtgekommen und würde auch jetzt zurechtkommen, und falls doch mal einer auftauchte, um so besser. Allerdings wäre alles viel leichter gewesen, wenn Onkel Ray noch am Leben gewesen wäre.
Er war der ältere Bruder ihres Vaters gewesen, Ray Braselle, ein Ganove aus der guten alten Zeit, der sie gegen die Einwände ihres Vaters, der Apotheker war, angelernt hatte. Ray Braselle war schon so lange im Geschäft gewesen, dass er einmal bei der Schilderung seines ersten Banküberfalls gesagt hatte: »Und ich bin auf dem Trittbrett gestanden.« Und dann hatte er erklären müssen, was ein Trittbrett war.
Onkel Ray war in Ordnung, wenn auch steinalt. Aber die Leute, mit denen er sich abgab, waren mehr wie Parker: beinhart, doch nicht auf die primitive Einbrechertour, sondern immer mit einem Plan, der auch Unvorhergesehenes berücksichtigte, wie man rein kam und auch wieder raus. Für solche Jungs konnte ein gutaussehendes Mädchen oft Teil des Plans sein, und wenn dieses Mädchen selbst ein Profi war, vertrauenswürdig und zuverlässig, keine Nutte und kein Junkie, ein Mädchen, das mit einer Waffe, einem Alarmsystem oder einem Cop umgehen konnte, um so besser.
Onkel Ray lebte in seiner freien Zeit am liebsten allein ganz weit draußen, auf einer kümmerlichen Ranch, die er in Wyoming besaß, nördlich von Cheyenne, oben im Vorgebirge in Richtung der hohen Berge von Montana. Dort wurde er von einem Pferd erdrückt – irgendein Unfall, es ließ sich nicht rekonstruieren, was genau passiert war –, und die Leiche wurde erst nach sechs Tagen gefunden. Danach bekam Noelle immer noch hin und wieder Anrufe von Männern, mit denen sie und Ray zusammengearbeitet hatten, und bei einem dieser Jobs hatte sie Tommy Carpenter kennengelernt. Sie hatten ein paar Jahre zusammengelebt, bis sich eines Tages herausstellte, dass Tommy Angst vor der Polizei hatte, und deshalb war sie jetzt wieder allein. Und fühlte sich verdammt unwohl.
Ob sie Mick bitten sollte, ihr ein Glas Wasser zu holen? Nein, allein schon bei dem Gedanken wurde ihr noch schlechter. Was würde passieren, wenn sie versuchte, Wasser zu trinken, und es käme ihr wieder hoch, hier in dem Rollstuhl? Ab auf die Sanitätsstation, da würde kein Weg dran vorbeiführen; der Kleiderwechsel, die Untersuchung, die Entdeckung des Geldes; zehn bis fünfzehn Jahre in einer Gefängniswäscherei.
Da musst du durch, sagte sie sich, und zu Mike sagte sie: »Mike, könnten wir eine Weile an ein und derselben Stelle bleiben? Ich fühl mich richtig mies.«
»Hab ich mir schon gedacht«, sagte er. »Bevor es dir wieder bessergeht, reden wir mit dem Zahlmeister.«
»Gut.«
Das hatten sie schon zweimal zuvor gemacht, deshalb würde der Zahlmeister nichts dabei finden. Etwa eine halbe Stunde bevor das Schiff anlegte, waren sie zum Zahlmeister gegangen, und Mike hatte leise erklärt, dass Jane Ann sichschlecht fühle, etwas schlechter als sonst, und ob sie nicht als erste von Bord gehen könnten, sobald das Schiff festgemacht hatte. Aber klar, kein Problem. Schon
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