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Sein letzter Trumpf

Titel: Sein letzter Trumpf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Zsolnay Verlag
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Verflucht, er war eingeschlafen!
    Gegen zehn war er von den Ferienhütten in die nächste Kleinstadt und zu einem Pizzalokal gefahren, wo er sich eine kleine Pizza und eine Dose Cola kaufte, dann war er zurückgekommen, hatte sich hier im Dunkeln auf die Veranda gesetzt und auf den schwarzen Fluss hinausgeschaut; im Wohnzimmer und in der Küche hinter ihm brannte Licht, und beim Essen überlegte er, wohin er gehen würde, sobald er das Geld in Händen hatte.
    Am liebsten hätte er den Vereinigten Staaten ganz den Rücken gekehrt, aber das traute er sich nicht. Er war sich nicht sicher, ob er ohne Ausweis über irgendeine Grenze kommen würde, und er hatte keinen Ausweis, den er gern irgendeinem Offiziellen gezeigt hätte. Und wenn er irgendwo andershin auf der Welt ging, was wüsste er von dem Land? Von den Gesetzen, den Systemen, der Art, wie alles funktionierte. Was würde er darüber wissen, wie die dort alles handhabten? Er würde sich selbst lahmlegen, und wozu?
    Nein, er würde in den Staaten bleiben müssen, und das hieß, dass er sich etwas suchen musste, was abgelegen und weit weg von zu Hause war; er hatte keine Lust, auf der Straße alten Kumpels von der Highschool zu begegnen.
    Aber es konnte auch nicht irgendeine beliebige Gegend sein. Es gab Staaten, beispielsweise Florida und Louisiana, in der die Kleinkriminalität blühte und die Polizei deshalb oftauf die Idee kam, jeden Fremden, der sich zu lange an einem Ort aufhielt, zu überprüfen. Aus ähnlichen Gründen schieden Großstädte wie New York und Chicago aus, aber die wären ohnehin nicht in Frage gekommen, weil Becker sich in Großstädten nie wohl gefühlt hatte.
    Er hatte an Oregon gedacht und an Maine, aber dort war das Wetter überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Andererseits würde er zu sehr auffallen, wenn er zu weit nach Süden ging.
    Vielleicht ein Staat wie Colorado oder Kansas. In eine mittelgroße Stadt ziehen, sich niederlassen, sich nach einer Weile neue Papiere besorgen, etwas von dem Geld in ortsansässige Firmen investieren, ein neues Leben anfangen.
    Die Papiere würden kein Problem sein, er wusste, wie man sich die beschaffte. In einer Großstadt wie beispielsweise Omaha oder St. Louis suchte man in den Zeitungsarchiven nach Todesanzeigen von Leuten, die im selben Jahr geboren waren wie man selbst, so lange, bis man jemanden fand, der vor seinem zweiten Geburtstag gestorben war. Unter seinem Namen schrieb man dann an das örtliche Standesamt und bat um Zusendung einer Kopie der eigenen Geburtsurkunde. Mit der ging man zum nächsten Sozialversicherungsamt und erklärte dort, dass man seit seiner Kindheit mit seinen Eltern außerhalb der Vereinigten Staaten gelebt habe, jetzt aber zurück sei und sich eintragen lassen müsse. Mit diesen beiden Ausweisen und derselben Geschichte vom Auslandsaufenthalt würde man sich seinen Führerschein besorgen, und schon würde man ein genauso legitimer Bürger des Landes sein wie jeder andere auch.
    Kansas, dachte er, da geh ich hin und seh mir alles genau an, um festzustellen, ob es das Richtige für mich ist, und über diesem Gedanken war er eingeschlafen.
    Und mit dem Bewusstsein wieder aufgewacht, dass er beinahe einen Riesenfehler gemacht hätte. Einen verhängnisvollen Fehler. Wenn die Räuber mit dem Geld zurückkamen und Ray Becker schlafend in diesem Stuhl antrafen, dann wär’s das gewesen. Keine Fragen. Keine Chancen mehr.
    Kansas? Schon eher der Grund des Hudson.
    Das Licht brennt ja noch! Wie spät ist es?
    Er wollte auf die Uhr schauen und aus dem Adirondack-Stuhl aufspringen, beides gleichzeitig, da hörte er eine Stimme: »Was meint ihr, wozu haben die das Licht angelassen?«
    Becker erstarrte. Jemand in der Küche, direkt hinter ihm. Er starrte in die Dunkelheit, zum Fluss hin, und horchte angestrengt auf das, was hinter ihm vorging.
    Eine zweite Stimme: »Vielleicht, damit sie die Stelle vom Fluss her wiederfinden.« Jünger und nasaler als die erste Stimme.
    »Wir lassen alles so, wie es ist«, sagte eine dritte Stimme, älter und bierschwerer, ähnlich wie die erste. Verdammt, wie viele waren das eigentlich? »Dann brauchen wir nur noch warten, bis die Jungs mit der Kohle hier reinspazieren.«
    Jetzt wusste er, warum er aufgewacht war. Er musste irgendwie gehört haben, wie sie angekommen waren, eine zugeschlagene Autotür oder die Haustür oder was immer.
    Runter von der Veranda, das war das erste. Langsam und lautlos musste er von der Scheißveranda runter.
    Becker

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