Seine einzige Versuchung
fiel die einigermaßen bizarre Handschrift auf, mit der ihr Name auf den Umschlag geschrieben worden war. Genauso wenig entging ihm das kleine Aufleuchten in ihren Augen, als er ihr die Nachricht überreichte. Sie nahm den Brief rasch an sich und zögerte, ihn zu öffnen. Elli wollte Kabus‘ Zeilen nicht in Benthins Beisein lesen, doch er tat ihr nicht den Gefallen, den Raum zu verlassen, als ahnte er etwas von der Brisanz dieses Papiers.
„Willst Du den Brief nicht öffnen?“, drängte er sie nun.
„Das hat doch Zeit. Ich lese ihn später.“ Ihre Antwort war äußerst ungeschickt und machte ihn erst recht hellhörig.
„Es ist eine Eilnachricht - vielleicht ist etwas passiert. Du solltest sie lieber sofort lesen.“ Er konnte ihr keine Wahl lassen - ihr seltsames Verhalten gab seinem Verdacht weitere Nahrung.
„Also gut, wie Du meinst. Es ist bestimmt nichts Wichtiges“, wiegelte sie nun ab und öffnete das Kuvert mit der wohlbekannten, markanten Schrift, bemüht, ihre Hände zu kontrollieren und ihn das Zittern, das sie befiel, nicht sehen zu lassen. Ihre Augen flogen hastig über die Worte. Er hatte nur zwei Zeilen geschrieben:
Meine lange vermisste Freundin, ich warte auf Sie - heute Nachmittag um drei Uhr im alten Tabakschuppen am Stadtrand. R.K.
„Und?“ Benthin war - von Elli unbemerkt - einen Schritt näher gekommen. Hektisch knüllte sie das Papier zusammen und warf es ins Kaminfeuer. „Du siehst ein bisschen blass aus um die Nasenspitze - ist alles in Ordnung?“ Schon wieder diese Frage!
„Was sollte nicht in Ordnung sein?“
„Es handelt sich immerhin um eine Eilnachricht - das kommt nicht alle Tage vor…“ Er hielt inne. Zuletzt hatte er eine Eilnachricht von Ellis Vater erhalten. Das schien nun eine halbe Ewigkeit her zu sein. Damals befürchtete er, sein ungebührliches Verhalten Elli gegenüber habe ihm den Zorn des väterlichen Freundes eingebracht. Seine Angst, den Freund und Elli zu verlieren, hatte ihn veranlasst, seine Karten auf den Tisch zu legen und seine Gefühle für Elli zu preiszugeben. Er erinnerte sich an die fassungslose Reaktion des Professors. Alles war ein großes Missverständnis gewesen. Ellis Vater hatte seinerseits befürchtet, seine Tochter habe Benthin mit ihrem aufsässigen Verhalten vor den Kopf gestoßen und damit ihre Freundschaft gefährdet. Von Bethins Annäherungsversuchen wusste er nichts - Elli hatte nichts verraten. Oh, wie er diese Frau liebte, und nun dieser furchtbare Verdacht.
„Deine Familie ist hoffentlich wohlauf?“
„Löchere mich doch nicht mit diesen Fragen! Man könnte meinen, Du wolltest mich verhören! Es ist nur eine dringende Anfrage zur Spendenaktion, die noch heute geklärt werden muss.“ Heimlich überzeugte sie ihr Gewissen, dass dies ja nicht die Unwahrheit sei, denn sie arbeitete schließlich mit Kabus zusammen in dem Hilfsprojekt. Ihre Sehnsucht, ihn endlich wieder zu sehen, ließ sie den schmalen Grat zwischen Wahrheit und Lüge gehen. Trotz ihrer moralischen Bedenken wollte sie nicht zur Marmorstatue an der Seite eines unterkühlten Mannes erstarren, der um seiner Karriere Willen bereit war, sich gesellschaftlichen Zwängen zu unterwerfen. Ihre Weiblichkeit würde sich niemals unterdrücken lassen, dafür hatte sie den Zauber der Sinnlichkeit schon zu gut kennengelernt. Dieses ständige Auf und Ab, dem sie ihr Mann aussetzte, erschien ihr nunmehr unerträglich. Für sie stand fest, dass er seine Gefühle nur vorgespielt hatte, um sie schnell zur Ehe zu bewegen. Tatsächlich galt sein Interesse ausschließlich seinem politischen Status. Und obendrein führte er ein heimliches Doppelleben mit anderen Frauen. Ohne gesellschaftliche Zwänge hätte er sie gar nicht gebraucht. Sie sah es nicht mehr ein, Rücksicht zu nehmen und sich an die Regeln zu halten. Sie würde sich mit Kabus treffen!
„Bist Du Dir da ganz sicher?“ Sie hörte die Skepsis in seiner Stimme. Es schien fast, als habe er ihre trotzigen Gedanken hören können und sie vollständig durchschaut. Elli musste sich beherrschen, um die Fassade der Harmlosigkeit aufrecht zu erhalten. Es war schlichtweg nicht möglich, dass er etwas wusste. Das Papier war längst den Flammen zum Opfer gefallen. Sie zwang sich, vernünftig zu denken und eine Antwort zu geben, die seine Zweifel ausräumen dürfte:
„Ich bin doch wieder gesund. Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen.“
„Muss ich wirklich nicht?“ Er ließ nicht locker. Ohne es zu wissen,
Weitere Kostenlose Bücher