Seine einzige Versuchung
Moment durch das Fenster auf die Straße. Benthin hatte die ganze Szene wie hypnotisiert verfolgt und starrte sie immer noch an. Nun trafen sich ihre Blicke. Sie konnten einander nicht mehr loslassen. Elli ging weiter nach vorne in den Wagen, ohne den Schaffner zu hören, der ihr nachrief, sie habe ihr Geld vergessen. Ihren Blick hielt sie fortwährend, eines ums nächste Fenster passierend, auf ihren Mann gerichtet, der sie von der anderen Straßenseite aus ansah. Schließlich nahm sie Platz, als die Pferde auch schon lostrabten. Sie fuhren unmittelbar an Benthin und Gerlach vorbei. Nun konnte Elli ihn genauer sehen. Seine Augen wirkten müde. In seinem Gesicht standen Schmerz und Fassungslosigkeit. Aus einem Impuls heraus legte sie ihre Hand an die Scheibe, als wolle sie ihn über die Entfernung berühren. Sie hielten einander mit ihren Blicken fest, bis sie außer Reichweite waren. Elli zwang sich, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken und richtete ihren Blick wieder nach vorne.
Gerlach fand als erster die Sprache wieder:
„Was war das denn?“ Er sah, wie Benthin innerlich bebte. Für einen Moment dachte er, sein Freund gerate ins Schwanken. „Das ist nicht gut, das ist gar nicht gut. Tu jetzt nichts Unüberlegtes. Benthin, hörst Du?“ Doch Benthin ließ ihn stehen und sprang zu Paulsen in die Kutsche:
„Fahren Sie der Pferdebahn nach!“
„Wie bitte? Se machen wohl Witze, wa‘?“
„Sehe ich so aus, als ob ich scherze? Fahren Sie endlich los!“
„Dit is nich‘ so einfach. Wir stehn in entjegenjesetzter Richtung. Ick muss erstma‘ wend‘n und das bei dem Vakehr hier!“
„Nun machen Sie schon!“ Paulsen ahnte, dass der Zeitpunkt gekommen war, einen neuerlichen Anlauf zu unternehmen, Benthin zu einer Aussprache mit seiner Frau zu bewegen:
„War dit eben nich‘ Ihre Frau in der Bahn? Wenn‘se zu der wollen, dann könn‘se dit ooch einfacha hab’n.“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, ick hab‘se doch selba zu ihren Eltern jebracht. Wo soll’se denn sonst schon jroßartich hin sein?“ Ja, wohin sollte sie sonst gegangen sein? Benthin sah die vernichtende Logik seiner Worte und forderte Paulsen auf, den direkten Weg zu ihrem Elternhaus einzuschlagen.
„Dit klingt schon ma‘ vanünftijer!“ In seiner Aufregung übersah Benthin, wie unwahrscheinlich es war, dass sich innerhalb der vergangenen Wochen keinerlei Reaktion seitens Ellis Eltern eingestellt hatte. Dass zudem die Pferdebahn ein anderes Ziel hatte, konnte er ohnehin nicht wissen. Paulsen hatte das Pferd kaum zum Stehen gebracht, als Benthin schon aus der Kutsche sprang und Sturm klingelte.
„He, was ist denn da los?“, konnte man die entnervte Stimme einer Hausangestellten von drinnen hören. Sie öffnete, und Benthin stürzte hinein:
„Wo ist sie?“
„Wo ist wer? “
„Meine Frau!“
„Sie meinen Fräulein Elli - äh, Frau von Benthin? Na, die wird doch wohl bei Ihnen sein, oder etwa nicht?“
„Was ist denn hier los?“ Professor Preuß war durch das wilde Geläute und die Stimmen aufgeschreckt und wollte nachsehen, ob alles mit rechten Dingen zuging. Benhtin überging die Formalitäten und kam sofort auf den Punkt:
„Wo ist Elli?“
„Was ist denn los mit Ihnen, Benthin? Sie sehen ja aus, als ob der Teufel hinter Ihnen her wäre.“
„Wo ist Elli?“
„Ich verstehe nicht - ist sie denn nicht bei Ihnen oder in dieser Suppenküche?“ Preuß wurde allmählich unruhig angesichts seines aufgebrachten Schwiegersohns. Schon eilte auch Frau Preuß herbei:
„Was ist denn das hier für ein Lärm? Ach, Benthin, wie schön, Sie mal wieder zu sehen…“ Benthin kochte. Es gelang ihm kaum noch, nicht ausfallend zu werden. Er betonte jedes Wort einzeln mit Nachdruck:
„ Wo - ist - Elli ?“ Preuß wandte sich an seine Frau:
„Er denkt, Elli sei hier.“ Frau Preuß hatte den Ernst der Lage noch nicht erfasst und kicherte:
„Aber sie wohnt doch schon seit der Hochzeit nicht mehr hier...“ Preuß fuhr ihr über den Mund:
„Das ist jetzt nicht der Augenblick zum Scherzen! Wie es aussieht, ist unsere Tochter verschwunden!“ Aus dem Flur kamen ein paar neugierige Damen herbeigeeilt, die Frau Preuß gerade einen Besuch abstatteten und im Salon auf sie gewartet hatten. Der unüberhörbare Aufruhr in der Halle hatte sie angelockt. Angeheitert von einigen Gläsern Likör und beinahe platzend vor Neugier wollten sie sich das Schauspiel, das sich hier anzubahnen versprach, nicht entgehen lassen. Die
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