Seine einzige Versuchung
dass sie sich längst hätten begegnen können während der letzten Wochen. Etliche Male hatte er sich von Paulsen in den Wald bringen lassen bis zu der Stelle, wo es zum See ging. Jedes Mal waren sie an der Pension vorbeigefahren, die ihm bis zu heutigen Tag nie aufgefallen war. Es war purer Zufall, dass sie sich nicht schon längst über den Weg gelaufen waren, da sie doch beide mehr oder weniger immer dasselbe Ziel gehabt hatten.
„Ich verstehe nicht…“
„Nein, das können Sie auch nicht. Aber ich hätte es mir denken können. Sie liebt es, draußen zu sein.“ Seine Stimme veränderte sich abermals. Er klang zärtlich, fast ein wenig verträumt und gab der Wirtin mit dieser unwillkürlichen Reaktion in ihrer Entscheidung Recht. Während er nach draußen eilte, sah sie ihm nach und hoffte, er werde die junge Frau von dem heilen, was sie offenbar quälte. Ihre traurigen, oftmals vom Weinen leicht geröteten Augen waren ihr als aufmerksamer Beobachterin nicht entgangen.
Elli war es immerhin gelungen, ein Kapitel in ihrem Buch zu lesen, ohne ständig gedanklich abzudriften. Nun wurde es ihr allmählich zu warm. Sie beschloss, zur Abkühlung ein wenig hinauszuschwimmen. Da sie nicht damit gerechnet hatte, Gelegenheit zum Schwimmen zu bekommen, hatte sie bei ihrer übereilten Flucht aus Benthins Haus keine Badekleidung eingepackt. Sie erinnerte sich an die Worte der Wirtin, der See werde so gut wie nie von jemandem besucht, weil er einigermaßen versteckt lag. Was machte es also, wenn sie einfach in ihrer Unterwäsche baden ging? Auf den ersten Blick unterschied sich ein Badeanzug ohnehin kaum von Unterwäsche. Farbe und Material variierten zwar, und Unterwäsche bestand im Gegensatz zu dem einteiligen Anzug aus mehreren Einzelteilen, aber wen sollte das hier schon stören? Sie überlegte nicht lange und zog ihr leichtes Sommerkleid aus. Anschließend nahm sie ein großes Handtuch aus der Tasche und legte es auf die Decke, um es nach dem Bad gleich griffbereit zu haben. Aufmerksam schaute sie sich noch einmal um, weil sie sicher sein wollte, keine Zuschauer zu haben, die sie in diesem Aufzug sehen konnten. Das Wasser war herrlich - klar und kühl. Lange würde sie nicht hier verweilen können. Auch wenn die Sonne an Land schon ihre volle Kraft entfaltete, hatte sie das Wasser noch nicht auf sommerliche Temperaturen erwärmt. Um nicht zu frieren, schwamm Elli mit kräftigen Zügen ein Stück hinaus, als sie plötzlich ein Geräusch vom Ufer des Sees wahrnahm, genau von der Stelle, wo sie ihr Lager aufgeschlagen hatte. Jemand war ins Wasser getaucht und kam nun in raschem Tempo auf sie zu. Sie wurde von Panik erfasst und schwamm schnell in die entgegengesetzte Richtung, um die Distanz zu vergrößern. Doch der andere war zu schnell für sie und kam immer näher. Sie hörte das klatschende Geräusch des Wassers, das er durch seine zügigen Kraulbewegungen verursachte…
Als er sie erreichte und am Arm fasste, schrie sie auf und schlug wild um sich. Das Wasser spritzte, und selbst als er sie ansprach und sie ihn erkannte, konnte sie nicht aufhören, nach ihm zu treten und mit den Fäusten auf seinen nackten Brustkorb einzudreschen.
„Elli, hör‘ doch auf damit!“ Er machte eine abwehrende Geste und versuchte gleichzeitig, ihre tobenden Arme einzufangen und sich keine Tritte einzuhandeln. Das Unterfangen war nicht ganz einfach, da sie in ihrer Panik enorme Kraft entwickelt hatte und der See an dieser Stelle so tief war, dass er nur noch so eben stehen konnte. Tränen strömten aus ihren Augen, einzelne Strähnen ihrer Haare hatten sich gelöst und hingen ins Wasser. Ihre Angst war der Erleichterung gewichen und sogleich von einer Entladung aller angestauten Gefühle der letzten Wochen und Monate abgelöst worden. Es gelang ihm schließlich, ihre Arme zu fassen und sie um seinen Hals zu legen. Ihre Beine begannen, zu ermüden. Er konnte ihren Körper an sich ziehen und festhalten, ihren Kopf an seine Schulter gelehnt.
„Ich wollte Dich nicht erschrecken.“ Sie atmete noch immer heftig und schlug noch einmal kraftlos auf seine Brust. Er griff nach der Hand und berührte sie mit seinen Lippen, atemlos von dem Kampf und vor Aufregung über das, was er ihr zu sagen hatte:
„Elli, ich kann nicht ohne Dich sein… Ich will Dich nicht verlieren…“
„Aber Du…“ Er ignorierte ihren Einwand, denn er ahnte, sie würde ihm vorwerfen, sie nicht zu lieben.
„Hör mir zu. Du denkst, ich liebe Dich nicht.
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