Seine einzige Versuchung
Anstalten machte, sich aus ihr zurückzuziehen, forderte sie ihn unmissverständlich auf:
„Bitte bleib‘ noch.“ Als sie ihn nach einem weiteren Nickerchen ein drittes Mal mit ihren Muskeln umklammerte und massierte, musste er lachen:
„Ich kann es nicht fassen - sie will mich tatsächlich umbringen! Ich bin doch keine fünfundzwanzig mehr…“
„Wenn ich Dich so von Deiner Reise abbringen könnte, würde es mir schon reichen.“ So waren sie aufs Engste und Intimste verbunden geblieben, bis es an der Zeit war, aufzustehen und zum Bahnhof aufzubrechen. Elli und Benthin scherten sich nicht um die verstohlenen Blicke, die ihnen einige der anderen wartenden Fahrgäste zuwarfen. Es war zu dieser Zeit nicht üblich, dass sich ein Mann und eine Frau in aller Öffentlichkeit so innig berührten und küssten. Eine Mutter zerrte ihre beiden Kinder zurück in den Wartesaal und schüttelte entrüstet den Kopf über diese Indiskretion, während sich die Kinder ihre Hälse nach dem eng umschlungenen Paar beinahe verrenkten.
Die unerwartete Begegnung mit dem Ehepaar van Haalen hatte sich innerhalb weniger Tage zu einem sehr herzlichen, freundschaftlichen Kontakt entwickelt, bei dem sehr rasch zur unkomplizierten Verwendung der Vornamen übergegangen wurde, wie es in Johann van Haalens Heimat üblich war. Man war sich einig, sein Hund müsse gleich gespürt haben, dass hier Gleichgesinnte aufeinandertreffen würden. Johann van Haalen war ein aufrechter, freundlicher Herr mit Spitzbart und Glatze. In seiner ruhigen, aber bestimmten Art musste er der Behauptung seiner Frau widersprechen, Artras wende sich grundsätzlich bevorzugt Männern zu. Mit seinem interessanten kleinen Akzent, der auf seine Muttersprache hinwies, stellte er fest:
„Ein bisschen wählerischer ist er schon - er lässt sich nicht auf jeden dahergelaufenen Hosenträger ein. Unseren Posboten kann er beispielsweise gar nicht leiden. Da muss schon eine charismatische Persönlichkeit aufkreuzen, bevor er sich zu solch hingebungsvollen Freundschaftsbeweisen hinreißen lässt.“ Marie van Haalen neckte ihn sogleich mit seiner missglückten Wortwahl:
„ Hosenträger können nicht herumlaufen. Wann lernst Du endlich einmal unsere Sprache?“ Sie hatten sich kennengelernt, als er geschäftlich in der Stadt zu tun gehabt hatte, in der Marie damals lebte. Sie verliebten sich, und er gab für sie das Leben in seiner Heimat auf, zumal ihn seine Geschäfte ohnehin häufig in die Ferne trieben. Schließlich war er auf den Zug der endlosen Fabrikgründungen zu jener Zeit aufgesprungen, und dies überaus erfolgreich. Sie hatten diesen Standort gewählt, da die Lage den Vorteil hatte, Lieferwege zu Lande und über das Wasser zu nutzen. Die Fabrik befand sich in unmittelbarer Nähe zum Hafen und war zugleich ans Schienennetz angeschlossen. Die größte Besonderheit bestand jedoch in Johann und Marie van Haalens sozialen Ansichten. Entgegen der allgemein üblichen verächtlichen und ausbeuterischen Haltung vieler Industrieller brachten sie ihren Arbeitern größten Respekt entgegen - und dies nicht nur in Worten. Sie leiteten das Unternehmen wie einen großen Familienbetrieb. Es wurde größten Wert auf die Einhaltung von Sicherheitsvorkehrungen gelegt, erkrankte Mitarbeiter mussten nicht - wie damals üblich - um ihre Stelle fürchten, sondern wurden mit medizinischen Maßnahmen und Überbrückungsgeld unterstützt. Arbeitspausen und Erholungsphasen waren nicht nur erwünscht, sondern wurden von Johann van Haalen regelrecht gefordert. Die Löhne waren überdurchschnittlich und so gestaltet, dass keine Familie in Versuchung gebracht wurde, ihre Kinder anstelle zur Schule zum Arbeiten zu schicken, um das Existenzminimum zu erreichen. Stattdessen verpflichtete der Unternehmer seine Mitarbeiter, die Kinder unterrichten zu lassen, denn er sah in einer guten Bildung die Basis für eine zufriedene und erfolgreiche Gesellschaft. Seine Mitarbeiter dankten ihm die ungewöhnlich guten Arbeitsbedingungen mit großer Motivation und dem ehrlichen Einsatz ihrer Kräfte. Van Haalen ermutigte sie, ihm Sorgen und Änderungsvorschläge vorzutragen und versuchte, diese zu berücksichtigen. Als Ergebnis schrieb er herausragende schwarze Zahlen und konnte ohne Übertreibung behaupten, einer der erfolgreichsten Unternehmer des Landes zu sein. Inzwischen waren auch andere auf sein Erfolgsrezept aufmerksam geworden und versuchten, ihm nachzueifern. Über diese Kontakte war schließlich
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