Seine Heiligkeit: Die geheimen Briefe aus dem Schreibtisch von Papst Bendedikt XVI. (German Edition)
mit
Kritik am Ministerpräsidenten zurückhalten, die Dinge lägen anders, als sie
sich nach außen darstellten. Anschließend werden die angeblichen Anomalien
aufgezählt, die von den Richtern nicht erkannt worden seien:
Die Sache,
die in diesen Wochen in aller Munde ist – die sogenannte Ruby-Affäre –,
erscheint auf institutioneller Ebene regelrecht befremdlich, ist sie doch nach
wie vor durch eklatante Gesetzwidrigkeiten gekennzeichnet. Sämtliche mit
beeindruckendem Aufwand betriebenen Ermittlungen der Mailänder
Staatsanwaltschaft gegen Ministerpräsident Berlusconi sind letztlich völlig
illegitim und mit offensichtlichen funktionalen und territorialen
Kompetenzüberschreitungen behaftet. […] Die Nichtbeachtung der Zuständigkeiten
hat nicht nur die Unzulässigkeit der Ermittlungen an sich bestimmt, sondern dem
Ministerpräsidenten Berlusconi seinen gesetzlichen Richter vorenthalten, den
die Verfassung jedem Bürger als Grundrecht zusichert. […] Die Mailänder
Staatsanwaltschaft hat die Gäste der Privatwohnung des Ministerpräsidenten mit
Telefonüberwachungen und der Rekonstruktion der Gesprächslisten ein Jahr lang
einer Art »telematischen Beschattung« unterworfen und unter Missachtung
sämtlicher parlamentarischer Garantien Berlusconis Wohnung faktisch observiert. […]
Seit Ende Oktober, als die Geschichte durch alle Medien
geht, hüllt man sich in den heiligen Hallen in Schweigen. Zwar beziehen sowohl Avvenire als auch die katholische Illustrierte Famiglia Cristiana kritisch Stellung gegenüber Berlusconi.
Doch aus dem Vatikan kommt weder eine Erklärung noch ein Kommentar. Die Affäre,
in der dem Ministerpräsidenten vorgeworfen wird, Sex mit einer Minderjährigen
gehabt zu haben, führt zwar zu Schwankungen in den Beziehungen zum Palazzo
Chigi, doch die Achse hält dem stand und zerbricht erst im darauffolgenden
Herbst. Zu jenem Zeitpunkt allerdings dient die an den Vatikan adressierte
Verteidigung Berlusconis dazu, dem unvermeidlichen Sturm der Entrüstung einen
Riegel vorzuschieben.
Es dauert bis Januar 2011, ehe Bertone sich zu einer offiziellen
Stellungnahme entschließt. Zuerst erinnert er daran, dass die Kurie nicht
interveniere, offenkundig um dem Vorwurf der Einmischung entgegenzutreten. Dann
der Vorstoß: Er verlangt öffentlich von den italienischen Politikern mehr
»Moral und Legalität« und die Achtung von Werten, besonders der Familie. Wenn
auch im gedämpften Ton eines Kuriengeistlichen vorgetragen, ist das Signal doch
unmissverständlich. Die Zeit des guten Einvernehmens zwischen Berlusconi und
dem Vatikan – ob aus Wahlverwandtschaft, Notwendigkeit oder Zweckdienlichkeit,
mögen die Historiker klären – neigt sich ihrem Ende zu. Als sein Privatleben in
der Öffentlichkeit bekannt wird, erscheint der Ministerpräsident in den Augen
der Kleriker als nicht mehr zu halten. Letta und Tremonti, seine engsten und
vertrautesten Botschafter und Berater, sind nicht mehr imstande, das Unbehagen
und die Verstimmung im Zaum zu halten, die sich hinter dem Bronzeportal
anstauen.
Das geheime Abendessen mit Napolitano
Im Kräftefeld der Macht führt die wachsende Befangenheit
gegenüber Berlusconi aber auch zu einem stärkeren Einvernehmen zwischen Joseph
Ratzinger und Staatspräsident Giorgio Napolitano. Unabhängig davon, wer gerade
Regierungschef ist, sind das Augenmerk und die Einflussnahme der Kirche stets
aufmerksam auf die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlaments gerichtet, vor
allem wenn es um so heikle Angelegenheiten geht wie die Gleichstellung privater
und öffentlicher Schulen, Sterbehilfe, Familie, nichteheliche
Lebensgemeinschaften, Abtreibung und – wie wir gesehen haben – die
Immobiliensteuer. [5] Weniger bekannt ist die Wertschätzung, die
Napolitano im Vatikan genießt. Seine Funktion ist für die Entscheidungsfindung
der Regierenden eigentlich nicht ausschlaggebend, doch in den letzten Jahren
wurde er zu einer zentralen Institution und zu einem geachteten Ratgeber und
Schlichter.
Seit seiner Wahl im Jahr 2006 wurde der Staatspräsident zunehmend als
wesentlicher Akteur auf dem Spielfeld der italienischen Politik wahrgenommen,
der in heiklen Situationen eine signifikante Rolle einzunehmen wusste. Bei der
langsamen – seit Monaten vorbereiteten – Stabübergabe von Berlusconi an
Monti und der Bildung einer Übergangsregierung im Herbst 2011 kam dies deutlich zum
Ausdruck.
Die offizielle Agenda der Beziehungen zwischen den verschiedenen
Institutionen
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