Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
einer Brücke gesprungen sein!«
Da die Ablöse noch nicht fertig umgezogen ist, gibt er mir die Örtlichkeit durch, und mein heutiger Streifenpartner Holger und ich düsen los. Ganz kurz kommt mir die Ortsangabe komisch vor. Das hab ich doch eben schon mal gehört, aber keine Zeit, drüber nachzudenken. Blaulicht an und losgebrettert.
Auf dem Beifahrersitz hockt mein Kollege, starrt vor sich hin und wird immer weißer im Gesicht. Er ist viel älter als ich und hat schon leicht graue Schläfen
Ich gucke ihn entgeistert an. »Alles klar bei dir??«
»Mmpff … Das ist dann mein allererster Toter …«, grunzt Holger und wischt sich über die Stirn.
Tja, was sagt man da als dreiundzwanzigjähriges Gör, das von Verbrannten über Bahnleichen bis hin zur Wasserleiche schon so ziemlich alles gesehen hat? Erst mal gar nichts.
«Schau dir alles nicht zu genau an«, rate ich ihm schließlich, »und wenn’s dir schlecht geht, kannst du dich ruhig in den Streifenwagen verkriechen. Ich mach das dann schon irgendwie.« Erst hinterher fällt mir auf, dass ich ihm die gleiche Ansprache gehalten habe, die ich vor Jahren im Praktikum von meinem Tutor bekam, als wir auf dem Weg zu meiner ersten Leiche waren.
Der Kollege nickt und stiert weiter auf die Fahrbahn vor uns, während unser Streifenwagen blau blinkend durch den Verkehr fliegt.
Wir treffen vor Ort ein. Die Kollegen, die das »Wildschwein« von der Fahrbahn entfernen sollten, sind schon da. Ich schlage mir mit der Hand vor die Stirn. Daher kam mir die Örtlichkeit so bekannt vor!
Erleichtert will ich schon aufatmen. Kein Brückenspringer, nur totes Schwarzwild. Doch dann sehe ich die blutigen Spuren auf der Fahrbahn. Ich schlucke. Doch kein Wildschwein. Kein Zweifel, das ist eindeutig ein Mensch oder das, was von ihm noch übrig ist. Es sei denn, Wildschweine trügen seit Neuestem Nike-Air-Turnschuhe und Jeans.
Ich verschaffe mir einen Überblick und zähle eins und eins zusammen. Auf dem Seitenstreifen steht ein Vierzigtonner. Die Spuren auf der Fahrbahn, die Brücke darüber.
Der Mann mit der Jeans und den Turnschuhen hat den Moment genau abgepasst und ist dem Vierzigtonner direkt vor die Scheibe gesprungen. Der Fahrer sitzt schockiert am Straßenrand. Alleine. Ich gucke in die Runde. Alle, Kollegen und Feuerwehrleute, stehen ein bisschen ratlos herum. Also nehme ich das in die Hand.
»Okay, wach werden«, sage ich zu mir und zu den anderen. »Tom, ihr nehmt den Unfall auf?«
»Jaaaaaa.«
»Gut, dann mach ich euch Fotos und ’ne Skizze.«
Ein dankbarer Blick des Kollegen, weil ich ihm die eklige Arbeit abnehme. Ich lächle, obwohl mir ganz und gar nicht nach Lächeln zumute ist. Weitere Streifenwagen kommen an, unter anderem der Chef, der direkt die Führung übernimmt und meine Einteilung fortsetzt.
»Einer hoch auf die Brücke, gucken, ob da noch ein Auto oder so steht. Wir müssen wissen, wer das da ist.« Er deutet auf den größten Blutmatschfleck. Ein Kollege rennt sofort die Treppen der Brücke hoch. »Einer bleibt beim Lkw-Fahrer und lässt ihn nicht aus den Augen. Ich will hier nicht noch einen haben, der sich was antut.« Alle nicken, eine Kollegin setzt sich in Bewegung.
Ich krame im Kofferraum unseres Streifenwagens, während hinter mir aus dem Stau wütendes Hupen einsetzt. Block, Stift, Kamera, Messrad, alles da. Das Hupen hört nicht auf. Ich atme tief durch, dann drehe ich mich um und marschiere auf einen schwarzen S -Klasse-Mercedes zu, von dem das Gehupe kommt. Kaum bin ich da, geht’s los.
»Die Fahrbahn ist doch frei, was soll denn das?«, blökt mich der offenbar befehlsgewohnte Herr im feinen Anzug an. »Ich habe einen wichtigen Termin, also bewegen Sie mal Ihren Hintern und die Streifenwagen da weg, und zwar zügig! Sonst beschwere ich mich bei Ihrem Vorgesetzten!« Bei den letzten Worten spuckt er mir vor Wut ein paar Sabberfäden auf die Lederjacke.
Gelassen warte ich, bis er fertig geschimpft hat, wische den Sabber weg, zucke dann resigniert mit den Achseln und öffne ihm die Autotür. Er guckt mich erst verständnislos an und steigt dann zögernd aus. Ich führe ihn um die Motorhaube herum und deute stumm auf etwas, das im Scheinwerferlicht des Wagens auf der Straße liegt. Es ist eine Hand des Toten, und zwar nur die Hand.
Der Mercedes-Fahrer sieht mich schockiert an, schluckt, steigt in sein Auto und sagt nichts mehr. Ich lächle ihn an, krame in meiner Jackentasche und gebe ihm meine Visitenkarte. »Hier können Sie Ihre
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