Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
Beschwerde über mich dann hinschicken.« Er schüttelt den Kopf, starrt mich immer noch entsetzt an und legt die Hände in den Schoß. Braver Kerl.
Ich zücke die Kamera, während Holger mir mit seiner Maglite leuchtet, damit wir nirgends reintreten. Er ist ziemlich blass im Gesicht, reißt sich aber sichtlich zusammen.
Wir fotografieren. Blutflecken, Bremsspuren, Glassplitter, Körperteile, die nicht mehr identifizierbar und über knapp zweihundert Meter verteilt sind. Kein schöner Tod, aber ein schneller.
Der Lastwagen sieht vorne ziemlich demoliert aus, der Fahrer sitzt immer noch fassungslos daneben. Mein Kollege will die Kamera wegpacken, doch ich schüttele stumm den Kopf, schnappe mir die Maglite und krieche unter den Lkw. Schäden festhalten und weitere Blutspuren sichern. Irgendwas Blutiges, Schleimiges tropft mir auf die Jacke. Ich wische es fast achtlos weg, als ich wieder unter dem Fahrzeug hervorkrieche.
Mein Kollege steht rauchend daneben und tritt von einem Bein aufs andere. Seine Gesichtsfarbe hat sich immer noch nicht normalisiert.
Ich krame in meiner Tasche und finde meinen Notfallschokoriegel. Als ich anfange, den zu futtern, folgen mir ungläubige Blicke. Ich kann nichts dafür. Andere rauchen zur Beruhigung, ich futtere Schokoriegel, auch wenn neben mir Leichenteile liegen. Es hilft mir, mich zu konzentrieren und die Nerven zu behalten.
Kauend räume ich die Kamera ins Auto, als der Notarzt zu mir kommt. »Du machst die Skizze?«
»Ja!«
»Komm, ich helf dir. Ich kann dir sagen, was hier alles rumliegt, und für den Toten kann ich eh nichts mehr tun.« Kurz deute ich fragend auf den Lkw-Fahrer. »Dem hab ich schon was zur Beruhigung gegeben.« Dann stapfen wir los.
Ich zerre das Messrad hinter mir her. Er trägt meinen Block, und ich zeichne ein, was er mir sagt. Dann beschriftet er die einzelnen Teile: »Niere«, »Rippen«, »vermutlich Arme«, »Fuß«, »Speiseröhre samt Luftröhre« und »Teile der Wirbelsäule«, kann ich lesen. Ich schlucke, und selbst mir mittlerweile recht abgebrühten Beamtin wird ein wenig schummerig.
Ich krame hastig in meinen Taschen, finde aber keinen weiteren Notfallschokoriegel. Als mein Chef mein verzweifeltes Gesicht sieht, reicht er mir einen halb geschmolzenen Kinderriegel. Ich lächele dankbar und gehe messend und Schokolade lutschend weiter, den Notarzt immer im Schlepptau. Es soll die wohl fieseste Skizze meiner bisherigen Laufbahn werden, und das will schon einiges heißen.
Der Leichenwagen ist angekommen. Mit einer Schaufel tragen die Bestatter die Leichenteile zusammen. An der Unfallstelle herrscht Stille, jeder arbeitet stumm vor sich hin. Die übliche Hektik fehlt, alle sind zu schockiert. So was hat noch keiner von uns gesehen. Brückenspringer ja, auch Überfahrene auf der Autobahn. Aber eine Leiche, die als solche nicht mehr zu erkennen ist und definitiv mehr nach Mettbrötchen als nach Mensch aussieht, so was hat man auch auf der Autobahn nicht alle Tage.
Für den Lkw-Fahrer ist ein Seelsorger eingetroffen, der ihn ins Krankenhaus bringt und auch bei uns Einsatzkräften nachfragt, ob alles in Ordnung sei. Alle nicken, aber ich sehe, wie Holger dankbar die Karte mit der Telefonnummer des Geistlichen entgegennimmt und fast heimlich in seine Tasche gleiten lässt.
Ich schaue den Kollegen aufmunternd an. Das größte Problem bei unseren harten Kerlen ist, dass sie sich oft erst eingestehen müssen, mit einer Situation alleine nicht klarzukommen und wirklich Hilfe zu brauchen. Denn ein Polizist, ein guter Polizist, der braucht so was wie Seelsorger und Psychologen nicht. Zumindest glauben das leider immer noch sehr viele meiner männlichen Kollegen und fressen all ihre Erlebnisse in sich hinein. Verdrängung ja, Verarbeitung eher nein, leider.
Hinter mir beginnt die Feuerwehr, die Reifen des Lkw sauber zu spritzen, und reinigt anschließend die Fahrbahn. Ein Rinnsal aus Wasser, Blut und Fleisch fließt in einen Gully, und wenige Minuten später sieht es aus, als wäre nichts passiert.
Mittlerweile wissen wir, wer da vor uns liegt. Die Kollegen haben auf der Brücke ein Auto gefunden. Zwei Beamte und ein weiterer Seelsorger sind unterwegs zur Lebensgefährtin des Toten. Langsam rücken die Streifenwagen und die inzwischen ebenfalls erschienene Kripo ab. Ein Abschleppdienst lädt den beschädigten Lkw auf. Wir verlassen die Stelle als Letztes.
Holger sitzt neben mir, immer noch schweigsam.
»Alles klar?«, stelle ich die dümmste Frage
Weitere Kostenlose Bücher