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Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)

Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)

Titel: Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Janine Binder
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lassen müssen und die anderen nicht, können wir manche Menschen retten und manche eben nicht.
    Jon haben meine Kollegen und ich viele Male gerettet, bis der Tag kam, an dem wir es nicht mehr schafften. Für ihn aber bedeutete dieser Tag vielleicht doch so etwas wie eine Rettung.
    Ich stehe mit meinem Notfallschokoriegel in der Hand am Fuß eines der Hochhäuser in Chorweiler. Über mir ist, nein, war ein gläsernes Vordach mit Stahlstützen angebracht. Das Sicherheitsglas ist gesplittert, und meine Schritte knirschen unangenehm auf den Tausenden kleinen und großen Scherben.
    Meine Kollegen spannen rot-weißes Flatterband mit der Aufschrift »Polizei« von einer Stütze zur anderen. Ein Rettungswagen und ein Notarztwagen mit ausgeschaltetem Blaulicht parken neben den beiden Streifenwagen im Wendehammer vor dem Haus. Die Sanitäter sitzen auf der Treppe und füllen mit dem Notarzt den Totenschein aus.
    Erneut beiße ich von meinem Schokoriegel ab und schaue nach oben. Siebenundzwanzig Stockwerke. Von welchem er wohl gesprungen ist?
    Widerwillig richte ich den Blick auf den Boden vor mir. Ein Häufchen Kleider liegt dort, unter dem sich ein kleines Blutrinnsal den Weg über das Pflaster bahnt. Erstaunlich wenig Blut dafür, dass er so tief gefallen und durch das Vordach gekracht ist.
    Sein Kopf ist halb von seiner Jacke verdeckt. Die Jacke, an der die Kapuze abgerissen ist, weil er noch vor wenigen Wochen durch einen Passanten an ebendieser Kapuze zurückgerissen wurde, als er sich vor die einfahrende S -Bahn werfen wollte. Mit Händen und Füßen hatte er sich gewehrt, und die Schlägerei war noch im vollen Gang gewesen, als wir dazukamen und es mir und meinem Kollegen endlich gelang, ihn zu beruhigen.
    Schon auf dem Weg zum heutigen Einsatzort war mein Bauchgefühl eindeutig. Als die Durchsage »Jugendlicher von Hochhaus gesprungen!« über Funk kam, wusste ich, dass ich Jon finden würde. Jon, der endlich geschafft hatte, wovon wir ihn seit Monaten abhielten.
    Dabei waren seine Versuche durchaus nicht die üblichen Hilfeschreie jugendlicher Fast-Suizidenten gewesen. Keine unnützen Versuche, sich mit zwanzig Aspirin ins Jenseits zu beamen, oder hilflose, halbherzige Schnitte an den Handgelenken. Nein, Jon, der intelligente, zurückhaltende Junge mit herausragenden Schulnoten und einem Zimmer voller Bücher hatte es eigentlich immer direkt richtig gemacht.
    Während ich seinen Körper betrachte, erinnere ich mich, wie ich verzweifelt in mein Funkgerät nach einem Rettungswagen brüllte, während mein Kollege Jons Unterarme zusammenhielt, die er sich mit einem zwanzig Zentimeter langen Küchenmesser von oben bis unten aufgeschlitzt hatte. Wir fanden ihn nur zufällig, weil der Kollege eine Rauchpause auf einem der abgelegenen und im Winter unbenutzten Parkplätze am Fühlinger See einlegen wollte.
    Ich erinnere mich an Sandras Erzählung, wie sie Jon in einer der Toiletten des City-Centers mit einer Überdosis Heroin im Körper fanden, von der wir bis heute nicht wissen, woher er sie hatte.
    Ich erinnere mich an den Nachmittag, den wir damit verbrachten, ihn von einer der Autobahnbrücken in unserem Bereich herunterzuquatschen, was letztlich nur funktionierte, weil Jon ein sehr rücksichtsvoller Junge war und herunterkletterte, als einer der Kollegen verzweifelt rief, dass er nicht damit leben könne, ihn fallen zu sehen.
    Ich erinnere mich an die vielen Besuche bei seiner immer total breiten Mutter, die oft nicht mal ansatzweise erfasste, was mit ihrem Kind passiert war.
    Ich denke an die Wohnung hier in der Hochhaussiedlung, die von Jon penibel sauber gehalten wurde, in der sich die Bücher stapelten, die er verschlang, als würden sie ihm bei seiner Flucht in ein besseres Leben helfen.
    Ich denke an seinen verzweifelten Blick, als ich ihn einmal fragte, warum er nicht leben wolle: »Wollten Sie so leben?« Seine Handbewegung hatte alles umfasst – seine betrunkene Mutter, seine in der Nähe herumstehenden, gaffenden und lachenden Schulkameraden, die Wohnverhältnisse, alles.
    Mir war keine pädagogisch wertvolle Antwort eingefallen, also hatte ich damals so etwas wie: »Besser so leben als gar nicht!« gestammelt, obwohl Jon und ich wussten, dass ich nur eine Floskel nutzte und mir gar nicht vorstellen konnte, so zu leben wie er.
    Ich arbeitete nur hier, ich setzte mich jeden Tag nach dem Dienst in mein kleines rotes Auto, das mehr gekostet hatte, als hier eine fünfköpfige Familie jedes Jahr zum Leben hatte,

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