Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
und fuhr zurück in meine eigene heile Vorstadtwelt, wo meine Katze und mein Lieblingsmensch auf mich warteten, in eine Wohnung, die nicht nach Urin stank, in der alle Leitungen funktionierten und wo ich keine Angst haben musste, bereits im Hausflur beklaut zu werden.
Jetzt hatte Jon es also geschafft. Diesmal hatten wir keine Chance, rechtzeitig da zu sein.
Später gelang es uns, den Ablauf zu rekonstruieren: Jon war morgens aufgestanden, zur Schule gegangen, war im Deutschunterricht für seine Klausur gelobt worden, hatte in der Pause, wie üblich, von einem Mitschüler Prügel bezogen, weil er die wöchentliche »Abgabe« für Bücher ausgegeben hatte, statt sie dem kleinen Schul-Mafioso auszuhändigen. Dann war er nach Hause gegangen, hatte seiner Mutter, die schon wieder total besoffen war, etwas zu essen gekocht, hatte sie vom Bett aufs Sofa verfrachtet und ihr die Flaschen mit süßem Likör in Reichweite gestellt, damit sie ihn gehen ließ. Anschließend hatte er sich eine ihrer Schnapsflaschen genommen und war die Treppen des Hochhauses hochgestiegen. Im 26 . Stock fanden wir später an der Balustrade des Treppenhauses seine Turnschuhe und die leere Flasche, außerdem ein zerlesenes Exemplar von »Peter Pan«, in das er mit einem schwarzen Stift den Text von Westernhagens »Freiheit« geschmiert hatte.
Ein verlorener Junge …
Dann war er gesprungen.
Ich beende die zwei Minuten Nachdenklichkeit, die ich mir genehmigt habe, und trete von der Leiche zurück. Einer der Kollegen reicht mir die Kamera, ich mache Bilder. Nach einem Ausweis suchen muss ich nicht. Wir alle kennen Jon so gut, dass jeder Kollege ihn hätte identifizieren können. Dann steigen wir schnaufend die Treppen hoch, den Aufzug benutzt hier niemand, höchstens als Toilette. Im 6 . Stock kommen uns mehrere Jugendliche entgegen. Ich schnappe Wortfetzen ihrer Unterhaltung auf: »… der kleine Pisser aus der Siebzehn ist tatsächlich gesprungen!«
»… bei der Mutter hätte ich das schon lange getan …«
Die Kollegen unten werden sie abfangen und ihre Personalien notieren, aber wirklich etwas über Jon erzählen können sie auch nicht. Jon hatte viele Freunde, auf jeder Seite seiner Bücher einen, aber in der Realität kam er mit Gleichaltrigen nicht zurecht. Am ehesten wusste wohl noch sein Sozialarbeiter Bescheid, der alle paar Wochen für ein Gespräch zur Verfügung stand und der immer wieder versuchte, Jon in Heimen und Pflegefamilien unterzubringen. Doch Jon war jedes Mal abgehauen, aus Jugendheimen, aus betreuten Wohngruppen. Immer war er zu seiner Mutter zurückgekehrt, fest davon überzeugt, dass er kein besseres Leben verdiene als das an ihrer Seite. Getrieben von einem diffusen Schuldgefühl, das er mir gegenüber mal mit den Worten erklärte: »Weil ich da bin, ist sie, was sie ist. Wäre ich nicht, wäre ihre Welt noch in Ordnung. Aber als Alleinerziehende ohne Job …« Er hatte abgebrochen, und ich hatte ihn spontan trotz Uniform und Waffe in den Arm genommen und geflüstert, dass jeder für sein Glück im Leben selbst verantwortlich sei und ein Kind niemals Schuld am Unglück der Eltern haben könne.
Jon hatte bitter gelacht, und wir fuhren ihn mal wieder in eines der tristen Jugendheime. Zwei Tage später sah ich ihn erneut den Weg in die Wohnung seiner Mutter nehmen, beladen wie ein Packesel.
Klopfen und Klingeln, Klingeln und Klopfen. Mein Kollege Uwe und ich stehen vor der Tür des Appartements mit der Nummer 17 .
Jons Mutter öffnet erst, nachdem ich ihr lautstark androhe, die Tür einzutreten, wenn sie ihren Arsch nicht langsam zu selbiger bewegt. Manchmal muss man sein sprachliches Niveau anpassen, damit die Menschen, mit denen wir täglich zu tun haben –im Polizeijargon das »polizeiliche Gegenüber« genannt –, das tun, was wir von ihnen wollen. Verschlafen steht sie in einem verwaschenen Bademantel vor uns und stiert verständnislos durch ihre Brillengläser.
Die beiden Kollegen der Kripo, die mit uns die Wohnung betreten, überbringen ihr die schreckliche Nachricht. Ich stehe im Türrahmen und betrachte ein schief an der Wand hängendes Foto hinter zerbrochenem Glas. Es zeigt Jon und seine Mutter in glücklicheren Zeiten: Fünf oder sechs Jahre alt ist er und kuschelt sich an seine Mutter, eine schöne Blondine, die noch nicht gezeichnet ist vom Alkohol und gut gekleidet in die Kamera lächelt.
»Hat er es endlich geschafft. Hat er mich endlich allein gelassen … der kleine Pisser? Erst
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