Seine Toten kann man sich nicht aussuchen: Eine Polizistin erzählt (German Edition)
versaut er mein Leben, und jetzt haut er einfach ab! Kleiner Pisser …«, nuschelt sie nur.
Vor Wut balle ich die Hände zu Fäusten und schiebe sie tief in die Taschen meiner Lederjacke. Selten ist es mir so schwergefallen, jemandem nicht an den Kragen zu gehen.
Sie haben Ihren Sohn schon vor langer Zeit allein gelassen!, denke ich und unterdrücke den Drang, meine Gedanken laut auszusprechen. Dann wende ich mich ab. Sonst spende ich immer Trost und habe für alles und jeden Verständnis. Doch dieser Frau gegenüber bleiben mir die aufmunternden Worte im Hals stecken. Mein Mitgefühl hat sie nicht verdient, entscheide ich und gehe die Treppen wieder runter zu ihrem Sohn, den ich zwar nicht retten und dem ich trotz aller Bemühungen, aller psychologischen Hilfe, aller Unterstützung vom Jugendamt keine Freude am Leben schenken konnte, aber den ich wenigstens jetzt nicht allein lassen will.
Uwe folgt mir leise. Als ich ihn ansehe, wischt er sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
»Die miese Schlampe!«, sagt er nur, als wir hinaus an die frische Luft treten, und auch ich blinzele zwei Tränen weg.
Dann gehe ich zwei Schritte auf Jon zu, der jetzt unter schwarzen Decken liegt. Gerade ist der Leichenwagen vorgefahren.
Ich ziehe die Decke ein Stückchen weg, schaue in sein fast unverletztes Gesicht, bücke mich, streiche ihm über die struppigen Haare und schließe seine Augen.
»Ich hoffe, es geht dir besser, da, wo du jetzt bist«, flüstere ich, dann breite ich die Decke wieder über ihn.
Schweigsam verläuft der Rest des Dienstes, ich habe kaum Zeit, weiter über Jon nachzudenken. Wir werden auch anderswo gebraucht. Mein Kollege und ich sind trotzdem nicht ganz bei der Sache. Immer wieder kehren meine Gedanken zu Jon zurück. Jon, der uns damals sogar noch anlächelte, als wir ihn blutüberströmt auf dem Parkplatz fanden. »Lasst mich doch bitte gehen. Ich kann nicht mehr!«, hatte er damals gehaucht, bevor er die Augen schloss.
»Niemals!«, hatte mein Kollege ihn angeschrien und nur noch verzweifelter die Wunden zugehalten und versucht, die Blutung zu stoppen.
Jetzt ist offenbar Niemals. Jon ist gegangen, und die Welt dreht sich weiter. Wen interessiert schon der tote Sohn einer Alkoholikerin im sozialen Brennpunkt?
Meinen letzten Gedanken habe ich offenbar laut ausgesprochen, denn Uwe sagt: »Uns hat er interessiert, und wir werden ihn nicht vergessen!«
Dann schaltet er das Blaulicht ein, und wir brausen zum nächsten Einsatz, der nächsten Krise, dem nächsten Menschen, den wir vielleicht retten können. Vielleicht aber auch nicht.
Jahressieger
2006
Bevor es mich nach Chorweiler verschlug, machte ich noch zwei kleine Hospitationsausflüge zu anderen Dienststellen, um mir ein Bild machen zu können, wo ich beruflich später vielleicht mal hinwollte, und auch, um Neues zu lernen und für meinen täglichen Dienst mitzunehmen.
Meine erste Station war für einige Wochen die Kriminalwache in Köln-Kalk. Kriminalwache – das hört sich für Laien gefährlich an, ist aber einfach eine Art Bereitschaftsdienst der Kripo. Die Kollegen auf der K-Wache machen all die Dinge, für die die Kriminalkommissariate gerade keine Zeit haben, und was anfällt, wenn die Bürozeiten der Kolleginnen und Kollegen von der Kripo vorbei sind. Sie fahren zu Leichenfundorten, übernehmen die Spurensicherung an Tatorten, unterstützen auch mal bei der Vollstreckung eines Haftbefehls, kümmern sich um Vermisstenfälle und sind immer dann Ansprechpartner, wenn der Streifenbeamte auf der Straße einen etwas komplexeren Fall zu lösen hat, an den vielleicht auch Wohnungsdurchsuchungen, Festnahmen, andere rechtlich nicht immer ganz einfache Maßnahmen oder kriminalistische Ermittlungen gebunden sind.
Ich schlage also im Sommer 2006 dort als Hospitierende auf und stehe zunächst einmal vor der Schwierigkeit, dass es brüllend heiß ist und ich zivile Kleidung plus Waffe tragen soll. Hört sich nach keinem sonderlich großen Problem an. Wenn man allerdings so zierlich ist wie ich, dann fällt eine Waffe auch dann noch auf, wenn man sie unter einem weiten T -Shirt versteckt. Ein Schulterholster mit einer Weste darüber ergibt eine komische Beule unter der Achsel. Man kann die Waffe auch nicht locker im Handtäschchen spazieren führen, wie man das manchmal in Filmen sieht, das ist viel zu gefährlich: Wenn sich etwas im Abzug verkeilt, geht das Ding womöglich plötzlich los.
Im Einsatztrupp hatte ich das Problem eigentlich nie
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