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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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nicht. Niemand wird mehr meine Stimme hören. Ich spiele toter Mann auf dem Schnee. Ich lieg ganz splitterfasernackt, wie Mami sagt, auf dem Schnee und spiele toter Mann und am Morgen bin ich ein toter Junge und dann müssen alle ganz traurig sein. Dann finden sie mich und ich bin ganz blau, so blau, als würde ich auf dem Wasser liegen und toter Mann spielen. Ganz blau, und auf meiner Haut wäre statt Salzwasser der Frost, eine Frostschicht, ganz hart wäre meine Haut, ganz hart gefroren, ich wäre brettelhart, wie Papi sagt, brettelhart, ich wäre hart wie ein Snowboard. Alles wäre zugefroren, die Lippen, die Nasenlöcher, die Lider, die Augen. Wie eine Pfütze wäre ich zugefroren und wenn man draufspringt, würde ich in tausend Teile zerbrechen. Und meine Augen wären ganz weit weg, wären beim Mann im Mond. Der Mann im Mond hat mich entführt, würde sie sagen, meine Augen, Mörder würde meine Stimme schreien, aber meine Zunge ist ja am Gaumen festgefroren und steif wie mein Körper. Ich bin ganz eingefroren, du kennst das, wenn du böse warst, ich bin ganz eingefroren dann, wie im Eisfach, im Plastik eingefroren und ins Gefrierfach geschoben, und dann ist es dunkel, weil die Tür zuknallt, weil der Deckel der Truhe zufällt, ganz dunkel und kalt. Und dann taue ich auf wie die Fischstäbchen, Eispulver überall, steinhart, ich liebe Fischstäbchen, wenn sie in der Pfanne in der Butter schwimmen und brutzeln und fast verbrennen, wenn Mami zu lange telefoniert, und ich die Pfanne vom Herd nehme und meine Handfläche ganz knapp über den roten Kreis halte, weil es so schön heiß ist, so schön warm, die Finger.

14
    Jedes Mal, wenn Joseph durch die Unterstadt lief, um zu Vladimirs Wohnung zu gelangen, traute er seiner Ortskenntnis nicht. Niemand würde hier das Luxusappartement eines Russen, der bei Sinnen und Dollar war, erwarten. Hier, wo es aus den Lokalen nach verbranntem Fett roch, die jugoslawischen Köche und afrikanischen Spüler auf Klappstühlen auf der Straße saßen und Zigaretten rauchten, deren Filter sie vorher abbrachen und in den Gulli warfen, wo der Tourismus billig oder noch bezahlbar war, wo Autos wie die Ufos übergewichtiger Marsmenschen umherirrten, die an die Utopie eines Parkplatzes glaubten und sich längst in der hundertsten Umdrehung befanden, sich unter Hupen und Fluchen mit ihren deutschen Kennzeichen, mit den ausladenden Hüften und breiten Reifen ihrer SUV s durch die engen Gassen zwängten.
    Joseph wartete nur darauf, dass einer einmal Amok fuhr, einfach aufs Gaspedal trat und alles abräumte, was vor ihm die Straße querte. Für was hatten sie denn den Grill vor der Motorhaube? Es hieß doch Skisafari, oder? Joseph war etwas zu spät dran, es gab kein Durchkommen bei diesen Fanmassen, diesem speckigen Lindwurm und grölendem Untier, das sich selbst vermehrte und in alle Ecken schleimte, überall floss das Bier mit dem Urin zusammen nach unten, floss in die Stadt, in den Untergrund, in das Bett des betonierten Bachs. Joseph war alle Schleichwege gefahren und dann gegangen, aber er konnte die Rempler, Schulterklopfer, Anspucker, Solidarisierer, Fraternisierer nicht vermeiden, er musste schließlich durch sie hindurch, sich kontaminieren, Farbe bekennen, rot-weiß-rot. Er wirkte wie ein englischer Lord bei der Armenspeisung, legte Hand auf, beschwichtigte, ballte die Faust, konnte seinen Ekel in ein plakatives Dazugehören verwandeln, sodass er unbeschadet die fünfzig Meter bis zum Hauseingang überstand und froh sein musste, dass sie ihn nicht auf ihren Schultern getragen hatten.
    Joseph holte Luft vor der Tür zum Treppenhaus, klopfte sich die unzähligen Berührungen vom Loden, säuberte mit einer kleinen, raffinierten, ausfaltbaren Kleiderbürste seine Garderobe, strich sich mit einem Kamm durchs Haar, streifte seine Autohandschuhe ab und setzte, nach einem Moment der Meditation, sein verbindliches Lächeln auf, das ihm aber sofort wieder im Hals stecken zu bleiben drohte, als er sich daran erinnerte, dass es keinen Aufzug gab. Dass im Zuge des Kleinkrieges der anderen Eigentümer, für die jeder Russe die bolschewistische Gefahr verkörperte, der Bau einer Dachterrasse mitsamt Aufzug, abgelehnt wurde, obwohl Vladimir natürlich alles aus eigener Tasche fürs Allgemeinwohl gezahlt hätte. Aber war es nicht schon schlimm genug, einem Russen im Treppenhaus zu begegnen? Wäre es nicht ganz unerträglich, mit ihm im Aufzug zu fahren, gar stecken zu bleiben? Mit einem Russen?

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