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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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jeden Tag neu verdiente. Grünsee war kultiviert, weil Kultur für ihn der Verbrennungsmotor seines Kopfes war, weil er wusste, dass ohne Kultur alles Konjunktur war und jeder Konjunktiv unmöglich, es nur die nackten Tatsachen der rohen Gewalt gab. Für Grünsee war Stil und Form die Chance, sich zu vergessen, sich zu verwandeln, sich zu überhöhen. Was andere im Sport erfuhren, die Glückshormonausschüttung, wenn man über seine Grenzen ging, empfand er, wenn er Shakespeare las, Keats zitierte, den Motor eines Aston Martin wie ein Gemälde nach dem Goldenen Schnitt bemaß und seine Geräusche wie die Ouvertüren einer Oper. Eigentlich gehörte er nach London und war hier fehl am Platz. Nur die Landschaft hielt ihn hier und ein paar Lokale wie der Hallerwirt. Der Hallerwirt war für Joseph, wie das Hagsteiner, aus der Zeit gefallen in eine zeitlose Schönheit und Vergangenheit. Der Hallerwirt war wie sein Holz, es atmete, die Jahre, die Menschen, die Wünsche und Sehnsüchte.
    Der Hallerwirt war wie das Hagstein nicht gefällig, gefiel sich nicht in Gefälligkeit. Sie waren, wie sie waren, und es war gut, wie sie waren, und sie wussten, dass sie gut waren. Das Essen war so ehrlich, dass einem das Herz aufging. Am liebsten traf er sich hier mit seinem Freund Hady, dem Direktor. Er hieß kurz Hady, weil er es liebte, scharf zu kochen und zu essen, höllisch scharf. Hades hatte er seine Gewürzmischung genannt, und so war ihm wohl der Name geblieben. Hady und Lord waren selbst leidenschaftliche Köche und wie in einem John-Ford-Western trafen sie sich einmal im Monat zum Tatar-Duell. Es war ein Spaß für ihre Gäste, aber für sie war es der rohe Ernst. Aber sie konnten auch lachen über sich, wenn auch Hadys Ironie so hintergründig war, dass ihr schwer auf den Grund zu kommen war. Aber das machte ihn aus, sein Humor, seine Lust am Spiel und seine weißen Haare, die er, so ulkten seine Freunde, vom Tiefschneefahren hatte, dann ging er zu Lois Stern, setzte sich in seine Ecke und ließ seine Geschmacksnerven, seine Zunge, seine Phantasie Segel setzen, dann saß er in einer Bar in Hongkong nahe den Wolken. Er musste nur Lois Stern beim Kochen zusehen und er war wieder versöhnt mit allem, beruhigt, beseelt. Er erholte sich in der Heimat von der Heimat.
    Aber hielten ihn wirklich nur die Landschaft und die Lokale? Nein, die Liebe hielt ihn hier, der Blick jeden Morgen auf den Wilden Kaiser, der für ihn die Queen war, und als einer ihrer liebsten Untertanen war er ihr Lord Chancellor bzw. ihr Cromwell und manchmal auch James Bond, wenn er aus seinem Wagen stieg und allen die Luft wegblieb. Leider konnte er jetzt nicht weiterträumen, sondern er musste jetzt im Hier und Heute Treppen steigen und noch dazu in Begleitung dieses geldadeligen Hohlbäumler, der arm im Geiste war und reich an Unterwürfigkeitsgesten. Denn natürlich umarmte er den gerade geschmähten Vladimir mit österreichischer Devotheit unter dem Abbeten aller Komplimente, die er in der kurzen Zeit über die Lippen brachte, wie es Joseph mit keinem einzigen gekonnt hätte. Hohlbäumler war nichts als eine Marionette, die man brauchte für alle, die die Bretter vor ihrem Kopf für die Welt hielten und durch sie ihre großen Löcher bohrten oder das vermeintlich große Rad drehten, dem die Luft ausging, wenn Grünsee es wollte. Vladimir ahnte nicht, dass Grünsee ein doppeltes Spiel spielte. Er wollte verhindern, dass Kitzbühel zu einem Tiroler Baden-Baden verkommt, wollte vermeiden, dass es bald so viele Helikopter wie Pistenraupen gab und mehr Geldals Fremdenzimmer. Er las Gogol, Puschkin, Tschechow, aber die Wirklichkeit drängte auf Dostojewski. Tolstoi war ein Märchen, denn es gab längst keine Wahl mehr und Frieden war nur ein anderes Wort für Krieg und Krieg nur ein anderes Wort für Kapitalismus. In Kitzbühel nannten sie das nicht Manchester-, sondern Alpenkapitalismus, der Schuldenberg ruft. So wie nach Deutschland nicht die elitären, mondänen Jungtürken Istanbuls kamen, sondern die armen Nichtschlucker aus Anatolien, so kamen aus Russland nicht die armen Kulturschaffenden, sondern die reichen Kapitalbeiseiteschaffenden.
    »Wo ist denn Ihre bezaubernde Frau, Vladimir?«, stürmte Hohlbäumler auf den Kaviar zu und sondierte, während er sich ein Glas Champagner reichen ließ, wer da war, wer nicht da war, welche Gesprächspartner sich bezahlt gemacht hätten und welche Gesprächspartnerin bezahlbar bzw. gratis und ein Geschenk des Hauses

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