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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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vorausgesehen, er griff aus dem Hinterhalt der Schönheit an, stand nur in einem alten Bauernkalender auf vergilbten Seiten, eingesperrt in einen Schrank. Unter Staub begraben hatte er sich entfacht und hätte sich gerne mit einer Windrose einen der Rennläufer ans Revers gesteckt, das Starthaus durch die Luft gewirbelt, die Fangnetze durch die Stadt geschleudert, die Tribüne abgetragen, das schicke Partyzelt, das wie ein Schneckenhaus auf dem Zielraum saß, der Schneekönigin geschenkt, mit allen angsterstarrten Figuren. Die sonst alles kalt ließ, ließ der Sturm kalt stehen, ließ sie in der Dämmerung stehen, die gierigen Gestalten, als der Strom ausfiel und die erste Tänzerin die Treppe hinunter der Crowd vor die kalten Füße fiel. Der Sturm war in Höchstform, er war austrainiert, er erinnerte an das Jahr, in dem Ödön geboren wurde, als er vom 3. bis 9. Februar im Iran unter seinen Schneemassen Dörfer und sechstausend Menschen begraben hatte in seiner Zeit des Zorns.
    Für wie lange hätte er heute Luft, fragte er sich, und hatte Joseph Grünsee ganz übersehen, der sich im Auge des Sturms noch ins Sonnbühel hatte drücken können. Er sah wie ein Schneemann aus und die Frau auf dem Barhocker am Eingang schrie, als sie ihn so schneeverweht den Raum betreten sah, und der Sturm mit ihm nach innen kam. Jetzt war der Sturm im Haus, machte sich unsichtbar, kroch in die Knochen, kostete seine Kälte in den Rücken aus, zog über Schultern mit kratzenden Eisfingern, hauchte in Nacken und träumte, er wäre wie der Scirocco und könnte sich als roter Sand auf alles legen, allen zeigen, ich bin da, ich bin überall, es gibt keinen Schutz, du kannst die Türen nicht vor mir verschließen. Joseph wagte es kaum, den Schnee abzuschütteln, er hatte Angst, er könnte die Hütten überfluten, so von Schnee beladen fühlte er sich, durchnässt bis ins Mark.
    »Gib mir einen Schnaps«, versuchte er die Situation aufzulösen und die Blicke von sich abzulenken, zurück in die Wirtschaft, wo die Champagnerkorken gegen die wie aufgespießte Köpfe an der Decke hängenden Helme knallten, wo die goldbraunen Schnitzel sich über die Tellerränder streckten, die faustgroßen, blutigen Steaks sich auf Holzbrettern mit extra scharfen Messern wie Butter durchschneiden ließen, wo die Weine älter waren als die Frauen der Männer, die sie zahlten und mit den Kellnern ein Glas nach dem Köpfen tranken in der Hoffnung, wenn schon keinen Platz in ihrem Herzen, so doch einen im Lokal zu bekommen. Manche dachten, man müsste sich seinen Tisch nicht ersitzen, sondern ertrinken, als gäbe es ein verborgenes Parker-Punkte-System, um mit den richtigen, teuren Weinen nicht länger abseits zu stehen, sondern endlich zum Sitzen zu kommen. Es dauerte, bis man einen Platz für alle zum Sitzen hatte, für die ganze Entourage, der man demonstrieren musste, dass man so beliebt, wie das eigene Geld geliebt war.
    Natürlich konnte man hier keine Tische reservieren und sich durch die Menge zu dem freien Tisch am Ende des Raums quetschen unter den neidischen Blicken der Wartenden, ihren Mordphantasien, die im Rücken kribbelten, wenn man ihnen die kalte Schulter zeigte und sie stehen ließ, während man selbst Platz nahm, der Platzhirsch war. Hier gab es mehr Sechzehnender als in allen Wäldern Kitzbühels.
    Das konnte aber dem Sonnbühel alles nichts anhaben, es blieb unberührt von denen, die durch es hindurchgingen. Das Sonnbühel konnte sie verkraften wie eine Regel die Ausnahme. Denn dieser Ort war himmlisch und die Kellner wie aus einer anderen Welt, nicht nur die Ruhe selbst, sondern ein Glücksversprechen in den Augen der Gäste, die an ihren Lippen und Lächeln hingen wie Junkies. Sie blieben am Boden, lässig, ohne jedes laissez-faire, sie waren auf eine geradezu erschreckende Weise professionell, diszipliniert, organisiert. Es wirkte alles beiläufig, sie liefen Kilometer, ein einziger Hindernislauf durch Menschenmassen und Eitelkeitsaufhäufungen, durch Verwerfungen und Anwürfe. Sie bestimmten die Regeln und das Spiel.
    Joseph liebte diesen Ort, aber heute war er ihm fremd, ohne dass er sich erklären konnte, warum. Der Schneesturm hatte ihn wie alle anderen überrascht, angefasst, war wie ein Haufen halbwüchsiger Schläger über ihn hergefallen mit grundloser Gewalt und Wucht. Joseph rang nach Luft, die Hitze nach der Kälte, der Alkoholatem, der ihm entgegenschlug, nach der rauhen Reinheit des Schnees die Ausdünstungen der

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