Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
Vom Netzwerk:
zusammengepferchten Menschen, die ihre Angst wegfeierten, die Rachen hinabschütteten, Kette rauchten und die Vorhäute ihrer Zigarren abschnitten. Heute haute ihn das um, warf ihn um, raubte ihm das Stehvermögen, sein nobles Darüberstehen und Überalleshinwegsehen. Er kam sich vor wie in einem Schwitzkasten gefangen und könnte nicht sehen, wer ihn sich da geschnappt hatte und umklammert hielt. Ihn erfasste eine irrationale Furcht, als läge auf allem und jedem ein Fluch, als seien sie verwünscht, weil all ihre Wünsche erfüllt waren und nichts mehr zum Wünschen übrig geblieben war. Der Sturm tobte, als ginge die Welt unter, und vielleicht ging heute eine Welt unter.
    Joseph bestellte den nächsten Schnaps, war gar nicht hinein in die Stube zu den Gesichtern, die ihn kannten, die ihn zu sich rufen, die ihn auffordern würden, Platz zu nehmen, mit ihnen zu trinken, die ihm Champagner- und Weingläser in die Hand drücken würden, ihm auf die Schulter klopfen würden, die zusammenrückten für ihn und ihn anschauten wie einen Doppelpunkt. Nein, er war noch nicht so weit. Der Anruf lag ihm im Magen, dieser Mann, der mit dem Mord eines Kindes gedroht oder ihn schon begangen hatte, oder es entführt und ihn hier treffen wollte, ihn als Anwalt gewinnen oder nur, dachte Joseph, ihn mit sich in den Abgrund reißen wollte. Er konnte sich nicht an sein Gesicht erinnern, so sehr er sich auch quälte. War er schon im Raum? Nein, vermutete Joseph. Und dann? Was würde dann passieren? Würde er ihm unter all den Leuten hier seine Geschichte erzählen, würde er ihm in die Augen schauen: Ich habe einen Jungen umgebracht und im Schnee vergraben. Holen Sie mich da raus.
     
    Joseph hatte das Gefühl, als sei er daran schuld, als würde er dafür verantwortlich gemacht werden. Er würde diesen Mann nicht verteidigen, niemals. Er war hier und würde ihn treffen, weil er eine Gewalttat verhindern wollte, wenn man sie noch verhindern konnte, wenn man ihn noch aufhalten konnte, besänftigen, umstimmen, verstehend entwaffnen, denn das war Josephs Stärke, er hatte ein Ohr für seine Klienten, er hörte sie an und sie hörten auf ihn und hörten auf, das Falsche zu machen. Vielleicht war es ja nur ein Scherz, ein dummer Scherz, ein Streich, den jemand ihm spielte, oder ein Falle, in die ihn ein Konkurrent lockte. Sein Bauchgefühl sagte ihm etwas anderes, es war ihm egal. Er würde dieses Risiko wie sonst auch gehen, denn es bestand die Chance, und wenn es nur eine leise in dieser Lautstärke war, ein Leben zu retten, ein Kind, das vielleicht gerade zu Tode fror, weinte, nach seiner Mutter schrie, gefesselt war, an einen Baum gefesselt, im Sturm, und der Schnee sprang mit seinen Stiefeln in sein Gesicht, und er konnte nicht die Hände vor sein Gesicht halten, er war schutzlos, schutzlos dem Wetter, diesem Mann ausgeliefert, seiner Perversion, seiner Gier, seiner Brutalität.
    Joseph kippte den Schnaps in einem Zug. Nein, er durfte sich nicht diesen Bildern überlassen, er musste seine Gelassenheit zurückfinden, sein Gleichgewicht, Ruhe bewahren, die Ruhe im Auge des Sturms. Das Brennen im Magen half ihm, es tat gut. Wenn dieser Typ wirklich käme, würde er tun, was zu tun war. Gleich würde er Scotty sehen, das würde diese düsteren Gedanken zur Tür hinaus in den Sturm jagen. Und dennoch würde dieser Typ und die Frage, ob er kommt, wer er wäre, was er getan oder nicht getan hätte, die Unbeschwertheit dieses Streifnachmittags nehmen, an dem er bis in den nächsten Morgen hinein hatte feiern wollen und genießen, dass seine Stadt für einen Tag, für ein Wochenende einen Hauch von jenem Wind hatte, der ihn in London durch die Straßen trug.
    Joseph zählte bis drei, dann stand er auf, zog den Anorak aus, hängte ihn auf und ging in den großen Raum, wo ihn Scotty mit winkenden Armen zu sich an den Tisch rief. Er sah so frisch aus wie immer. Lord konnte sich nie erklären, wie es Scotty gelang, alle Spuren zu verwischen, als tauchte er sein Gesicht jeden Morgen in den Schnee, oder er hatte mit dem Teufel einen Pakt geschlossen, dass er ihm mit jedem Sonnenaufgang eine neue Leber implantierte.
    Gestern Nacht noch hatte Scotty bis drei Uhr früh in ihrer Bar in München gesessen und die letzten Bilder seiner aktuellen Ausstellung verkauft, um auf die Piste zu kommen. Scotty war Galerist.
     
    Man nannte ihn Scotty, weil er Scott Fitzgerald ähnelte, in seinem Trinkverhalten, in seiner Lebenslust, seiner Leidenschaft, seiner

Weitere Kostenlose Bücher