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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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Formvollendung, seiner Rauschdisziplin, seiner Metamelancholie. Scotty war der geborene Freund. Wenn auf nichts mehr Verlass war, dann auf ihn, auf ein Glas neues Lebenselixier, mit einem Eiswürfel gekühlt und einer Zigarre befeuert.
    Aber er hätte den Namen Scotty auch deshalb verdient, weil er ein technisches Genie war. Kein Gerät, dem er nicht Herr wurde, er war nicht nur der Meister des Vernetzens, sondern der Herr der Netzwerke. Er überließ nichts dem Zufall, er drängte den Zufall in eine Falle und nahm ihm jede Fluchtmöglichkeit. In jedem Lokal, in das sie gingen, sprach er die Bedienung mit Namen an, fragte sie nach ihren Kindern, nach völlig unerwarteten Details, betrat die Küche, begrüßte den Koch, vergewisserte sich, dass dessen Bruch verheilt war, und fragte, ob er noch immer dieses eine Gericht besser als jeder andere auf der Welt zuzubereiten verstand.
    Scotty begegnete allen mit Respekt und erwartete, dass man ihm den gleichen Respekt zukommen ließ, vor allem dann, wenn er betrunken war und sein Gesicht zu einem roten Leuchten aufstrahlte, seine Augen begannen, alle zu umarmen, weil sein Herz hinauf bis zu den Wangen schlug und seine Bewegungen einer geheimen Notfallchoreographie gehorchten und alles ausglichen, korrigierten, was jeden anderen ins Stolpern, Schwanken, zum Fallen gebracht hätte. Er lallte nicht, eher sang er, er war mehr trunken als betrunken, mehr berauscht, als dass er einen Rausch hätte. Er war ein großer Trinker, einer jener Trinker, die ausgestorben waren. Wenn er getrunken hatte, verwandelte er sich von Fitzgerald in Hemingway.
    Lord hatte einmal für seine Verhältnisse fast wütend reagiert, als ein gemeinsamer Freund sein Verhalten Kellnern gegenüber als liebedienerisch denunzierte, ihm Unterwürfigkeit unterstellte. Denn so verdeutlichte es Lord dem Freund: Scotty ist ein Dompteur, ein Dom-Pérignon-Dompteur, der sich seine Kellner wie Tiere dressiert und sie zu den unvorstellbarsten Kunststücken animiert. Wenn er ihnen den Bauch pinselt, dann nur, damit sie ihm den seinen füllen, ohne dass er sich ein Loch in ihn stehen muss. Freundlichkeit war für ihn nicht nur eine Frage des Stils und der Würde, der Zivilisation, sondern auch das entwaffnende Wunder gegen alles Hässliche und Hasserfüllte, aber eben auch das: ein do ut des. Und er bekam fast immer, was er wollte.
    Darüber hinaus liebte Lord etwas ganz Unerklärliches an ihm. Er fühlte sich mit ihm und durch ihn herausgenommen aus der Gegenwart, weil eine andere Zeit mit ihm gegenwärtig wurde, jene Zeit, als Gentlemen und Schriftsteller das Abenteuer suchten, indem sie sich lässig eine Zigarette anzündeten und dem Minotaurus in die Augen schauten, als wäre er eine Frau am anderen Ende der Bar, dazwischen eine Bretterbrücke über einem Abgrund, einem reißenden Erzählfluss und einem Glas, das zwischen den Lippen brach.
    Er hatte, für Lords sensibles Ohr, einen fatalen Hang zur Volksmusik, wenn er den falschen Wein erwischt hatte und mit seinem iPod »Scotty sucht den nächsten Hinterseer« spielte.
    Naturgemäß war er ein begnadeter Skiläufer, als hätte er mit jeder Schneeflocke schon einmal getrunken und würde sie persönlich begrüßen, bevor er auf ihr geometrische Muster in die Hänge carvte, die seine Bilder als große Kunst auszeichneten. Jetzt perfektionierte er den Einkehrschwung und stieß mit Lord auf die Streif an und den Südtiroler Sieger, denn war nicht Tirol Tirol wie eine Rose eine Rose? Der Rest des Tisches konnte ihrem Gespräch nicht folgen, den kurzen Andeutungsschwüngen, den Buckelpisten.
    Aber Lord schaffte den Einstieg nicht, er war abwesend, nur zur Hälfte da, mit geteilter Aufmerksamkeit, fast gespalten. Da war der eine Lord, der das Glas hob, charmierte, mit einem Zwinkern jede ironische Bemerkung mit Gänsefüßchen markierte für jene, die bei jeder Doppelbödigkeit seiner Sätze ins bodenlose Nichtverstehen fielen.
    Und da war der zweite Lord, der nervös um sich blickende, den Raum sondierende, der mit einem Ohr alle Gespräche verfolgte, seine Aufmerksamkeit wie ein Richtmikrofon von Tisch zu Tisch schwenkte und Sätze aus der Kakophonie isolierte, analysierte, sortierte, Muster erkannte. Was war heute anders? War es schon sichtbar? Musste er nicht das Unsichtbare im Offensichtlichen orten? Aber eigentlich gab es nur eine Frage: War er schon da? Beobachtete er ihn? Hatte er ihn angelogen, um sich zu erkennen zu geben oder zu verschwinden, wenn die Situation

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