Seine Zeit zu sterben (German Edition)
für ihn zu unsicher war?
Lord kannte die meisten, ohne sie zu kennen. Aber konnte es nicht jeder sein? Wie sah denn ein Kindesmörder aus, ein Kindesentführer? Was verbarg sich hinter diesen Gesichtern? Welche Sehnsüchte, welche dunklen Keller, welche Verließe, welche Hotelzimmer, welche Verstecke, Geheimschubladen, Computer in schwarzen Netzen, welche Pseudonyme, Chatnamen, Darkrooms, Masken? Wer von ihnen führte ein zweites Leben, ein Leben hinter dem Leben, das er mit seiner Familie, seinen Freunden, in der Firma führte? Hatte nicht jeder einen hidden track? Einen Song, der am Ende kommt, wenn keiner mehr etwas erwartet, wenn du längst eingeschlafen bist, und er bricht aus den Boxen und knallt dich an die Wand? Hatte er auch nichts und niemanden übersehen? Zu gern hätte er Scotty eingeweiht, ihn zu sich gezogen und ihm ins Ohr geflüstert, ihn um Hilfe gebeten, um sein scharfes Auge, seinen untrüglichen Instinkt für das Bild hinter dem Bild, die Schrift unter der Schrift, das Dunkel, aus dem das Licht schießt.
Lord musste an ihr Kinderspiel denken, wenn sie mit den Eltern im Restaurant waren und sich vorstellten, was die anderen Gäste machten, wie sie hießen, ob sie Familie hatten, welche Berufe sie ausübten, ob sie Mörder waren, Lehrer, Engländer, Amerikaner, Russen, Franzosen, Deutsche, was sie im nächsten Moment bestellen würden, wer als Nächster aufstehen würde, wer auf eine Frau wartete oder auf einen Auftragskiller, auf die Sachertorte, die Imperialtorte, wer welches Tier war, welchem Tier er bis aufs Haar und die Schuppen glich, ein Karpfen, ein Hund, eine Katze, eine Ratte, ein Schwein, der gestiefelte Kater, das tapfere Schneiderlein, der dort, das ist Rumpelstilzchen, das Händchen hält mit Aschenputtel, dort der Zwerg auf dem Schoß des Eisenhans und Hans im Glück mit der Börsenzeitung und der Schneekönigin, die ihm ihre kalte Schulter zeigt.
Hinter allem, was man sah, war etwas, das man nicht sah, aber nicht übersehen durfte, für das man ein Auge haben musste. Jeder, der in diesen Raum blickte, überlegte Lord, jeder, der die Hauszeitung las und die Fotos betrachtete, würde eine schöne, skischillernde Oberfläche vermuten, mit Kunstschnee planierte Pisten und Persönlichkeiten, geformt von Plastischen Chirurgen. Aber konnte es nicht etwas ganz anderes sein als eine danteske Höllenschleife, »Dante schreibt für die Bunte«? War das nicht vielleicht der Götterhimmel? Ein Geheimbund, ein Netzwerk, eine große atridische Familie?
Lord hatte es sich abgewöhnt, die Menschen nach ihrem Äußeren zu beurteilen, nach ihren Getränken oder Klamotten, nach ihren Frauen oder Männern, nach ihrer Sprache oder Sprachlosigkeit, nach ihrer Herkunft oder Zukunft. Vorurteile sind hinterher Nachteile, war seine Devise. Er schaute sich die Menschen an, wie sie erschienen, wie sie sein wollten, und versuchte dann gegen jeden Anschein herauszufinden, wie sie waren, wie werden würden. Lord war immer auf Augenhöhe, selbst wenn er dafür in die Knie gehen musste oder auf dem Tisch tanzen. Er zwang sich, niemanden zu unterschätzen, und wollte selbst unterschätzt werden, wenn er den Wert der anderen schätzte.
Jetzt entdeckte Lord die weinende Frau am Nebentisch hinter Scotty, der sie verdeckt hatte, aber zur Toilette gegangen war. Lord hatte nur auf die Männer geachtet. Die Frau war panisch, sie konnte nicht an sich halten, es schüttelte sie die Verzweiflung, die Angst packte sie und warf sie hin und her, beutelte sie.
»Was soll ich nur machen«, hörte Lord sie schluchzen.
»Igor ist bestimmt bei Christoph, glaub mir, es ist ihm nichts passiert, es wird sich alles auflösen. Wahrscheinlich hat er ihn gesehen und hat einfach den Skikurs stehen gelassen, um zu seinem Papa zu fahren, und hat ihn dann angelogen. Du weißt doch, wie frech er lügen kann, der Rotzlöffel.«
Die Freundin nahm sie in den Arm, aber Yvonnes Augen verrieten, dass ihre Angst nicht kleiner, sondern von Augenblick zu Augenblick größer wurde und wuchs wie die Schneemassen vor den Fenstern und die Stärken des Sturms, der immer wütender gegen das Sonnbühel und seine Heiterkeit anbrüllte.
Lord hatte aufgemerkt, als er gehört und gefolgert hatte, dass sie ihren Sohn vermisste. Er war erschauert und die Schweißperlen auf seinem Rückgrat gefroren zu Eistränen. Ein Junge? Der Vater? Wenn er der Mann war, auf den er wartete?
Yvonne konnte, wollte sich nicht beruhigen, sie hätte am liebsten laut geschrien,
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