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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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mit den hübschen Kellnern geflirtet und mit ihrem imaginären Strohwitwentum kokettiert. Wir brennen lichterloh, hatte Petra mit ihren verlängerten Wimpern gezwinkert und sich überlegt, in welches Körperteil sie als nächstes das Geld ihres geschiedenen Mannes investieren sollte, um ihre ewige Jugend zu verlängern.
    »Du hättest es ruhig tot lassen sollen, kaum hast du es aufgeladen, schon blinkt es wieder. Mailbox, Mailbox, Anonym, Unbekannter Teilnehmer und dann ist es kein Unbekannter Teilnehmer, sondern deine dir nicht unbekannte Schwiegermutter. Sicher ist es Christoph. Geh schon ran! Nehmen wir noch eine Flasche? Oder zwei Gläser?«
    »Es ist die Mailbox«, antwortete Yvonne und konnte kaum das Band abhören, da ein Aufschrei aus dem Nebenraum kam, wo die Streif übertragen wurde. Sofort liefen alle von der Terrasse in das Zimmer oder scrollten auf ihren Smartphones, ob etwas passiert sei, da sie nur für wahr halten konnten, was dort auf dem Display aufblitzte. »Die Streif ist doch schon vorbei«, verfolgte Petra verständnislos die Panik und war versucht, selbst aufzustehen, wenn sie es nicht als unschicklich empfunden hätte, wie ein aufgescheuchtes Huhn den anderen hinterherzuflattern. »Da muss etwas Schreckliches passiert sein«, interpretierte sie die Gesichter der Menschen im Fenster, das Raunen.
    »Igor«, stammelte Yvonne und fing zu weinen an, ohne dass sie Petra oder irgendjemand beachtet hätte. »Igor ist verschwunden. Der Skikurs. Auf der Mailbox. Er war plötzlich weg. Sie suchen ihn. Wo ist Christoph? Warum habe ich denn jetzt keinen Empfang!« Plötzlich saß sie ganz allein da, denn auch Petra war nach drinnen geeilt. Yvonne hielt sich die Hände vors Gesicht und konnte die Tränen nicht mehr halten. »Igor ist verschwunden!« Aber keiner interessierte sich dafür und selbst die Sonne kehrte ihr den Rücken zu und machte sich hinter einer Wolke davon und überließ dem unerwarteten Schnee die Tränen abzustreifen.

II
STURM

1
    Der Schneesturm kam aus heiterem Himmel. Dem Himmel war das Lachen vergangen, eingefroren zog er sich hinter das Grau ins Unsichtbare zurück und überließ der polaren Kaltluft und den Tiefdruckgebieten die Webcams, die nur noch ein weißes Rauschen übertrugen, Schneeflocken, die gegen die Kameraaugen klatschten und wie dicke Tränen hinunterliefen. Der Schnee fegte die Menschen von der Piste, trieb sie vor sich her wie Schlachtvieh, drückte sie an die Wände, in jede freie Ecke unter einem Dach. Aber es gab keinen Unterschlupf, keinen Schutz, der Schnee war überall, der Schnee war schneller, der Schnee war schon da, er fiel, er wehte, kam von allen Seiten, stieg aus dem Herzen hoch, weiße Blutkörperchen vermehrten sich unter der Schneehaut, verstopften die Adern. Der Schnee legte sich auf alles, was sich bewegte oder still stand, er kannte kein Erbarmen, keine Gnade, er schlug sich mit dem Wind, raste, wurde rasend, ein wütender Wind, ein wütender Schnee. Die Äste krachten, die Bäume bogen sich, der Schnee machte sich schwer und schwerer, auf den Dächern, den schwankenden Gondeln, den Sesselliften, spuckte auf Schutzbrillen und schmolz auf dem Kunstleder, nur um noch kälter zurückzukommen, die Straßen unbefahrbar zu machen und alles Menschliche unsichtbar. Man konnte nicht die Hand vor den Augen sehen, nicht den Matsch hinter den Augen, das Blitzeis über der Seele.
    Der Schneesturm berauschte sich an sich selbst, rächte sich dafür, dass er während der Streif still gehalten hatte, dass er diesen leuchtenden Glückshimmel geduldet, ertragen hatte, das Wildekaiserwetter, dass er die Helikopter Purzelbäume hat schlagen lassen, dass sie sich wie Kreisel auf der Nasenspitze der Berge im Hintergrund drehen durften, dass die alten Doppeldecker rote Bullen durch das Blau zogen, die Sonne sich für ihren Ball das Glühen aus den geweiteten Pupillen geschlürft und sich schamlos breitgemacht hatte, alles in den Schatten gestellt hatte mit ihren Strahlen, ein Strahlen in jedes Gesicht, in die Strähnchen der Starlets und sogar auf die Glatzen der Geldgatten gezaubert hatte. Die Sonne hatte die Rennläufer angefeuert und sie in ihrem besten Licht gezeigt. Es war wie im Märchen. Aber irgendjemand muss die Kugel kräftig schütteln, hatte sich der Schnee gedacht, und war gefallen und gefallen, ließ sich vom Wind mitreißen, und sie entfachten gemeinsam einen Sturm, und verschafften ihrer Wut freien Lauf, straften die Meteorologen Lügen. Keiner hatte ihn

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