Seine Zeit zu sterben (German Edition)
das ganze Sonnbühel zusammengeschrien, sich die Haare gerauft, wäre auf den Tisch gesprungen und hätte gebrüllt: Mein Sohn ist verschwunden, Igor, er ist weg, und ihr sauft hier, besauft euch, lacht und habt euren Spaß! Gebt mir meinen Sohn zurück! Wie könnt ihr nur so fröhlich sein, während Igor vielleicht friert oder, oder, oder.
Fast wäre sie in Ohnmacht gefallen, ihr war schwarz vor den Augen geworden, sie war, ohne dass sie es gemerkt hatte, aufgestanden, wie ferngesteuert hatte sie den Stuhl weggeschoben und war dann zusammengesackt, ein Häufchen Elend, das keiner zusammenkehren würde, das war der Job des Personals, den Dreck nach draußen zu schaffen, alle störenden Spuren von trauriger Menschlichkeit beiseitezuschaffen und aufzuwischen wie die Kotze auf dem Klo, wenn wieder einer über seinen Durst getrunken hatte und es ihm nicht gereicht hatte, im Suff neben das Urinal zu pissen und die Papierhandtücher über den ganzen Raum zu verteilen, wenn er mit ihnen um sich warf wie mit seinem Geld.
Lord fing Yvonne im letzten Moment auf, setzte sie wieder auf den Stuhl, umarmte sie mit festem Griff, gab ihr Halt, wenn schon nicht Zuversicht, bis sie wieder zu sich kam, halbwegs atmen konnte und Worte zwischen das Schluchzen zwängte.
»Igor«, wiederholte sie immerzu, »Igor.«
»Das ist Ihr Sohn, nicht, Igor?«
»Ja, Igor ist mein Sohn, er ist ein wunderbarer Junge, er fährt ganz wunderbar Ski, er ist im …«
»Was ist mit Ihrem Sohn?«, insistierte Lord, obwohl er merkte, dass sie vielleicht unter Schock stand, im Innersten geschockt war, besessen und ergriffen von einer unvorstellbaren Angst und Ahnung.
»Igor«, versuchte sie zu antworten.
»Igor«, fuhr Petra dazwischen, »Igor ist ihr Sohn, er ist, wie soll ich sagen, nicht schon wieder heulen, Yvonne, es ist bestimmt nichts, glaub mir, ich spür das, Igor ist ihr Sohn, die Skischule hat angerufen, dass er sich vom Kurs entfernt hat, dass er plötzlich nicht mehr da gewesen sei.«
»Diese Schlampe, warum hat sie nicht aufgepasst, sie hat Christoph gleich schöne Augen gemacht, sie hat Igor gar nicht gesehen«, presste Yvonne alle Wut aus ihrer zitternden Brust.
»Die Skischule wollte wissen«, erklärte Petra und umarmte nun auch Yvonne, sie nahmen sie beide in die Zange, »ob Igor sich gemeldet habe, ob er zu seinen Eltern gefahren sei, ob er bei Yvonne sei oder seinem Vater.«
»Christoph«, stöhnte Yvonne, aber kam nicht weiter.
»Christoph ist ihr Mann.«
»Wo ist er«, fragte Lord, »kann man ihn nicht anrufen? Vielleicht ist der Junge bei ihm?«
»Er geht nicht ans Telefon«, wehrte sich Yvonne gegen die Umklammerung, »er hat ihn entführt, er will ihn mir wegnehmen, er bringt uns beide um, er wird uns beide umbringen …«, dann war sie wieder nicht mehr zu verstehen, weil sie um Luft rang oder die Worte in ihrem Ringen verschluckte.
»Rede keinen Unsinn, Yvonne, glauben Sie ihr nicht. Sie hatte einen Traum, und jetzt denkt sie …, das ist krank, Yvonne, Christoph liebt euch, er liebt euch abgöttisch!«
»Du musst es ja wissen«, schob sie Petra zur Seite, »du schläfst ja mit ihm, hat er dir das gesagt, während er dich fickt, dass er uns liebt, ich liebe Igor, und fickt dich in den Hintern, du magst es doch so, oder? Hast du doch gerade vorher erzählt, sie mag es von hinten, müssen Sie wissen, am liebsten mit verheirateten Männern, die Kinder haben, und dann müssen sie ihr von ihren Familien erzählen, damit sie kommt, eine schöne Freundin, du.«
Petra überlegte kurz, ob sie Yvonne eine knallen sollte, sie war beleidigt, verletzt, sondierte sofort, wer mitgehört hatte, ob es jemand gehört hatte, wie sie sie ansahen, aber sie sah nur Lords Augen.
»Sie steht unter Schock, du weißt ja gar nicht, was du sagst, komm wir gehen.«
»Was haben Sie der Skischule gesagt?«
»Noch gar nichts«, antwortete Petra schneller als Yvonne, in der Angst, sie könne sie erneut beschimpfen. Warum hört der Sturm nicht auf, fragte sie sich, warum kann ich nicht einfach aufstehen und gehen, ich habe mit alldem nichts zu tun, fickt euch, tolles Wochenende, dieser verzogene Rotzlöffel, windelweich würde ich ihn schlagen, wenn er nach Hause kommt.
»Wir müssen die Bergwacht verständigen. Wir lassen Ihren Mann ausrufen.« »Aber Igor ist doch verschwunden!«
»Wir sollten Schritt für Schritt vorgehen. Wenn der Junge bei Ihrem Mann ist oder sich bei ihm gemeldet hat, können wir die Situation ohne viel Aufsehen
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