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Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Seine Zeit zu sterben (German Edition)

Titel: Seine Zeit zu sterben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Ostermaier
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nie, wenn alle Straßen offen vor ihm lagen.
    Er setzte gerade an, ihn zu rufen, als Yvonne ihm in die Rippen stieß:
    »Ein Anruf, ein Anruf, mein Handy vibriert!« Sie konnte es nicht in die Hand nehmen. »Heben Sie doch ab, gehen Sie ran, Igor, Igor.«
    Lord griff nach dem Handy, doch bevor er den Anruf annahm, blickte er gespannt auf das blinkende Display, er betete, es wäre Christoph, doch was er las war: Anonym ruft an. Lord hätte am liebsten das rote Feld gedrückt, aber er berührte mit einem unterdrückten Zittern das grüne: »Ja?«

2
    »Wenn ich diesen Beichtstuhl verlasse, wird es einen Toten geben«, Ödöns Lunge starrte durch das Gitter in die Dunkelheit, »ich schwöre es.« »Bei Gott«, wollte er nachsetzen, aber er brachte es nicht über seine geplatzten Lippen, brachte es nicht übers Herz, denn das war längst kälter als alle Liebe in der Welt, kälter als der Schnee, der jetzt fiel und alles unter sich begrub, gleichgültig, ohne Reue. Er fiel, fiel auf die Dächer, in die rauchenden Kamine, fiel in die Krägen, in die toten Augen, fiel auf die Pisten, fiel auf den Kunstschnee und ließ sich in der Nacht überrollen von den Ketten, bis am Morgen die ersten Kurven in seine Unversehrtheit schnitten, das Pulver aufstoben und Zeichen zum Abgrund zogen, hinab in die Hölle, die Stadt, in der morgen nur noch die zerbrochenen Flaschen, die von Skistiefeln zertretenen Zigarettenschachteln und das Erbrochene, die Pisse in den verborgenen Ecken, hinter den Ständen, an die Streif erinnern werden, die Mutter aller Rennen.
    Was interessierte das den Schnee, wenn er fiel, von allen wie der Heiland erwartet, die Erlösung, Herr erlöse uns aus der Wüste und lass es schneien, damit alles Gras verschwindet. Denn Gras ist wie das Fleisch, und das Fleisch will nicht verfaulen, sondern schockgefrostet im Zielhang an ihren Flaschen hängen, am Hacken ihrer Champagnergläser, das Fleisch will feiern und sich taxieren lassen in seiner Daunenhaut, bevor die nächste Kurve durch die Parade fährt.
    Wie viel Schnee wäre nötig, sie alle verschwinden zu lassen, hatte sich Ödön gefragt, als er in die Gondel gestiegen war. Wie lange musste es schneien? Bis alles vergessen war, bis nur noch das Weiß zu sehen war und das Grau der Gipfel, die mit ihren Kreuzen den Himmel aufschlitzten, wenn er sich mit seinem Herzen auf die Erde legen wollte, um die Schreie zu ersticken, die ihn um den Schlaf brachten, die Stoßgebete wie Messerstiche, Herr, lass ihn verrecken, Herr, lass ihn pleite gehen, Herr, lass ihn aus der Kurve fliegen, Herr, schenk ihr eine Fehlgeburt, Herr, lass sein Geschäft platzen, lass den Scheck platzen, lass die Blase platzen, lass die Stopfleber platzen, die Milz, die Galle, lass ihre Eingeweide wie Konfetti mit dem Schnee das Bild zeichnen, das sie verdienen.
    Der Hass hatte sich über Ödön wie eine Hornhaut gezogen. Sein Verstand erinnerte ihn an die Trauer, seine Augen an die Sehnsucht, die Lust, aber er hatte alles eingezwängt und ausgesperrt in seinen Schutzanzug. Ganz in Schwarz war er in der Gondel gesessen, ein schwarzer Ritter, schwarzer Helm, schwarzes verspiegeltes Visier, darunter eine schwarze Sonnenbrille. Wie ein Krieger hätte er sich schwarze Balken unter die Augen schmieren wollen, wären seine Augenränder nicht schon schwarz genug gewesen, Traueranzeigen unter leeren Pupillen, aus denen die Erinnerung an das Glück fast völlig verschwunden war, nur ein Blitzen, das er nicht kontrollieren konnte, das stärker war als er.
    Sein Körper hatte ein eigenes Gedächtnis, sein Körper liebte diese Landschaft, jeden Quadratzentimeter, jeden Strauch, jeden Stein, den Gott zwischen seinen Zahnlücken auf die Erde gespuckt hatte, sein Körper liebte die Tannenschatten, die Fichtenschatten, das uralte Holz der Hütten mit seinen Rissen und dem getrockneten Jahrhundertschweiß, die Decken, in denen die Seelen kleben geblieben sind, als sie aus der Brust in die Ewigkeit entfliehen wollten, die Herrgottswinkel, die Weihwassertränen, die Kachelöfen und ihr Ruß in den Ecken, seine Lungen inhalierten diese Orte, ihre Geschichten. Als würde sein Körper seinen eigenen Schnaps brennen hier, so besoffen war er von Glück, wenn er diesen Landstrich berührte, mit den Blicken, den Füßen, den Fingerspitzen.
    Dabei war Ödön eigentlich kein sentimentaler, kein poetischer Mensch, kein Tagträumer, kein Nachtschwärmer, kein Naturbursche. Aber ihm ging es hier so, wie es Menschen ergeht, wenn sie

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