Seine Zeit zu sterben (German Edition)
Körper, der Druck stieg, er stammelte, bis es aus ihm herausbrach: »Geben Sie den Jungen frei. Das sind doch alles Pädophile, die Pfaffen, er hat ihn, er hat ihn, das Schwein, das sind alles Schweine, die Kutten! Kinderficker!«
Er erschrak selbst über seine Worte, aber nach einer Schrecksekunde schnellte er, als wolle er das Gesagte ungeschehen machen, oder vielmehr noch unterstreichen, auf den Pater zu, doch die beiden anderen konnten ihn im letzten Moment zurückhalten.
»Lass ihn!«, der Bergwachtler drehte dem Alten den Arm um, obwohl er selbst noch ganz taub vor Schmerzen war. Der dritte schaute zu, er war wie abwesend, stand neben sich und betrachtete die ganze Szenerie aus weiter Ferne. Er hatte sich überanstrengt, immer nur weiß zu sehen, wo man etwas finden will, hatte ihn fast verrückt gemacht. Er war nicht explodiert, er war implodiert, seine Seele, meinte er, von Schneemassen begraben, und jede weitere Flocke begrub sie mehr. Jeder Farbtupfer, jede andere Farbe als weiß hatte ihn aufschreien lassen, dort, dort ist was, ein Anorak, eine Jacke, ist das ein Arm, da ein Handschuh, es muss ein Handschuh sein, die Stecken, sind das nicht seine Skistecken, die Liftkarte. Die anderen hatten ihm irgendwann verboten, etwas zu sagen, bevor er sich nicht absolut sicher war. Diese permanent aufgeheizte, hochgejagte und dann um so tiefer und bitterer enttäuschte Hoffnung hatte sie deprimiert, noch gereizter gemacht, als sie schon waren.
Der Bergwachtler hatte sich geschworen, nie wieder mit Amateurhelfern loszuziehen, hatte sich verflucht, dass er nicht in dem anderen Trupp war. Aber die Streif hatte alles abgezogen, und sie mussten alle helfen, alle um Hilfe bitten, das Skigebiet war so groß, die Kälte so kalt, so tödlich kalt für einen kleinen Jungen. Wenn Leute bei einer Tour verschwinden, von einer Lawine überrollt werden, verschüttet, weißt du ungefähr, wo sie sind. Aber hier wusste keiner irgendwas. Wie der Kleine überhaupt aus dem Kurs verloren gehen konnte, warum sie es so spät gemerkt hatten, sodass keiner wusste, wo er sei, wie weit er kommen konnte. In der näheren Umgebung des Ortes, wo sie sein Fehlen bemerkt hatten, war nichts, gar nichts. Wenn er entführt wurde, vergrößerte es den Radius ungemein. Aber dennoch musste der Kleine Ski fahren, Lift fahren, freiwillig mit dem Mann kommen. Kannte er ihn? Und dann waren doch an allen Liften die Ansagen, die Durchsagen, mussten alle die Augen offen halten gegen den Schnee, musste jeder Junge gefragt werden vom Liftpersonal, wie konnte er verschwinden, so einfach? Wie gut fuhr er Ski? Heulte er, wenn er eine schwarze Piste hinuntermusste, weigerte er sich, heulend, zitternd, wie konnte der Mann ihn zwingen? Oder war der Kleine ein Draufgänger, einer, der überall hinunterfuhr, der am liebsten unter dem Lift, neben der Piste, im Wald, durch den Wald jagte, keine Rinne, keine Spur ausließ, ein Rowdy, ein unerschrockener Junge, der es allen beweisen wollte?
Der Bergwachtler merkte, er wusste zu wenig, sie mussten Kenntnisse sammeln, um zu finden, um zu verstehen. Aber er wusste nichts, und jetzt musste er auch noch auf diese beiden Durchgedrehten aufpassen, die er am Ende aus dem Schnee würde buddeln dürfen, wenn sie sich nicht vorher gegenseitig erschlagen oder ihn erschlagen oder den Pater, der so ungewöhnlich ruhig und gefasst wirkte.
»Ich hab doch recht«, brüllte der Alte, den der Bergwachtler fast vergessen hatte und dessen Arm er noch umgebogen hielt, sodass es dem Alten den Schmerz ins Gesicht trieb und es zu einer bösartige Fratze verzerren ließ. »Ich kenn den gar nicht, diesen Pater. Das ist nicht unser Pfarrer. Der ist hierherversetzt. Sicher ist er strafversetzt. Sie versetzen doch die Pädophilen, bevor sie sie bestrafen, die zeigen sie doch nicht an. Stand doch überall. Einfach versetzt, und da fassen sie dann die nächsten Jungs an. Dachten, hier oben gibts keine Jungs. Aber das ganze Skigebiet ist voll!«
»Beruhigen Sie sich, ich verstehe Ihre Aufregung. Sie suchen einen Jungen, er ist verschwunden? Mein Gott! Ich werde für ihn beten, beten, dass Sie ihn finden, dass ihm nichts passiert ist! Ich bin hier zur Urlaubsvertretung. Ich kann Ihnen versichern, dass der Junge nicht hier ist. Und einem Kind kann ich nichts antun. Die Medien haben Ihren Blick verzerrt. Sicherlich auch durch unsere Schuld. Meine Herren, ich halte gerade eine Beichte ab. Wenn ich Ihnen helfen kann, helfe ich Ihnen gerne danach. Ich muss
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