Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
versuche, mich dem Tanzen hinzugeben, und lasse mich von Tris herumwirbeln. Ich will jetzt nicht an IVF und Beth und all die anderen ungelösten Fragen denken, und trotzdem, trotz der Musik, des Palavers und des allgemeinen Partychaos, das mich umgibt, nagen die Zweifel weiter an mir, lassen mich nicht los.
Nach ein, zwei Minuten schleppt Boris mich ab. Er ist nur halb so groß wie Tris, aber gebaut wie ein Backstein – massiv und mit rotem Gesicht. Ich habe schon immer gedacht, dass er auf mich steht.
»Sie gehört mir, du alberne Tunte«, ruft er.
Ich schiele zu Boris’ Frau hinüber. Sie stammt aus Russland, genau wie Boris. Im Gegensatz zu ihm hat sie sich nie eingelebt. Im Augenblick starrt sie mich an, als würde sie mich am liebsten umbringen.
Ich mache mich von Boris los und stoße im Rückwärtsgehen mit Kyle zusammen.
»Gen? Wie geht’s denn?«
Ich lächle zu ihm hinauf. Kyle Benson ist ein richtig Netter. Ein Bär von einem Mann und Arts Partner bei Loxley Benson. Und er wacht über Art, in allen Lebenslagen. Morgan mag vielleicht die Daten unserer Versuche mit IVF kennen, aber wenn Art überhaupt mit jemandem über den Streit mit mir gesprochen hat oder darüber, ob wir es noch einmal versuchen wollen – und wie er selbst darüber denkt –, dann mit Kyle.
Sie lernten sich kennen, als Art vierzehn war und seine Mutter mit ihrem pubertierenden Sohn und ihrem eigenen Leben nicht mehr fertigwurde. Art war nach eigenem Bekunden außer Kontrolle geraten, hatte Probleme mit der Schule und geriet allmählich auf die schiefe Bahn: Spritztouren mit gestohlenen Autos, ein paar geklaute Flaschen Bier, die kleinen Sachen, von denen Sozialarbeiter mit ernsten Gesichtern sagen, dass sie schnell eskalieren können.
Anna war damals Empfangsdame in einem Schönheitssalon, und eine der Kosmetikerinnen kannte jemanden, der jemanden kannte, der schwierige Jungs wochenweise in Pflege nahm. So unkontrolliert und inoffiziell das lief, hätte es leicht ins Auge gehen können, aber es war das Beste, das Art je passiert war. Das Paar, bei dem er über die folgenden Jahre immer wieder in Pflege war, hatte selbst einen halbwüchsigen Sohn, Kyle, und die beiden Jungs wurden Freunde.
»Gut geht’s, Kyle, danke«, sage ich. »Und dir?«
Er zuckt mit den Achseln. »Prima. Die Arbeit ist allerdings der Wahn. Hat Art dir erzählt, dass er den Premier getroffen hat?«
»Hat er.« Ich grinse. »Ein- oder zweimal.«
»Kann ich mir vorstellen.« Kyles Gesicht mit den schweren Wangen zieht sich auseinander zu einem gewaltigen Lächeln. »Gut, dass er sich mal richtig über etwas freuen kann. Das heißt …« Das Lächeln erstirbt, und er stöhnt. »Ich meine … Scheiße, Gen, ich will nicht sagen, dass er unglücklich ist … aber er hat mir erzählt, dass ihr’s vielleicht wieder mit IVF versuchen wollt, und ich weiß, wie schwer das für euch beide ist …« Er wird rot und seine Züge vor Verlegenheit schwer.
»Ist schon okay.« Ich lächle, um ihn aufzumuntern. Er ist lieb und verlässlich und hat sich immer für Art eingesetzt. Bei Loxley Benson hält er sich im Hintergrund. Art mag der kreative Motor sein, der Ideen hat und sie durchsetzt, aber manchmal frage ich mich, ob es nicht Kyle ist, der das Ganze zusammenhält. »Welche Wirkung, glaubst du, hat Die Verhandlung auf das Geschäft gehabt?«, frage ich, um das Thema zu wechseln. »Art glaubt, das sei alles nur positiv – der Name ist bekannter, solche Dinge. Siehst du irgendwelche Nachteile?«
Kyle grinst. »Oh ja, die vielen verschmähten Frauen, aber das legt sich langsam wieder, seit die Serie nicht mehr läuft.«
Ich muss lächeln. Art hat mir eine Auswahl von E-Mails gezeigt, die er bei Loxley Benson erhalten hat. Sie reichen von schüchterner Bewunderung bis zu eindeutigen Angeboten. Mehrere Frauen haben Bilder von sich oben ohne mitgeschickt.
Tris’ iPod gibt jetzt »If I Were a Boy« von sich, und er windet sich wie eine Stripteasetänzerin – mit Hen als Stange. Fast alle im Raum sehen zu und lachen.
Mir kommt ein Gedanke. »Redet Art auch manchmal … über andere Dinge von früher … über die Zeit, als unser Kind geboren wurde?«
Ich sehe Kyle genau an. Er wird wieder rot, blickt gequält und schüttelt dann den Kopf. Weiß er etwas über Beth? Bestimmt nicht. Kyle ist so eine offene und ehrliche Natur, bei ihm würde ich bestimmt merken, wenn er Geheimnisse hätte. Er ist einfach nur verlegen.
Ich sehe zum Fenster hinaus auf die dunkle
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