Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder üblich. Mir als Einzelkind sind Geschwisterbeziehungen ohnehin ein Rätsel. Bevor Dad starb, verbrachte ich einen guten Teil meiner Kindheit damit, dass ich im Garten herumlief und mir Familien für mich ausdachte. Dad mochte es, wenn ich ihm von meinen imaginären Geschwistern erzählte. Mum fand so etwas einfach nur merkwürdig.
Art küsst Morgan flüchtig auf die Wange, geht der Umarmung aber aus dem Weg.
Ich begreife, dass ich Zeugin eines Machtkampfes bin. Was durchaus verständlich ist. Art könnte es nicht ertragen, von jemandem vereinnahmt zu werden. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich seine Beziehung zu seiner Schwester nie ganz durchschaut habe. Sie sind kaum zwei Jahre auseinander, doch obwohl sie sich offensichtlich nahestehen, ist Art in ihrer Gegenwart immer irgendwie befangen. Das würde er natürlich niemals zugeben, und wenn ich davon anfange, sieht er mich an, als hätte ich den Verstand verloren. Morgan ist, wie sie ist, Gen, hat er einmal gesagt. Ein bisschen borstig, aber sie meint es gut.
Sie reden im Flur leise miteinander. Einmal sieht er zu mir herüber und lächelt ein wenig. Ein trauriges Lächeln. Er sieht abgekämpft aus. Morgan fasst ihn am Arm, um Aufmerksamkeit heischend, aber anstatt sie anzusehen, tritt er einen Schritt zurück. Ich kann Morgans Gesicht nicht sehen, aber ihr Rücken wird steif. Sie wirft das dunkle Haar zurück und stelzt von dannen, in Richtung Wohnzimmer.
»Und? Freut sich Art auf seine Party?«, zwitschert Mum aus dem Apparat.
»Ja, ich denke schon. Hey, apropos Party, ich muss mich jetzt fertig machen«
»Na, dann schau, dass du hübsch bist für deinen Art«, sagt sie bedeutungsvoll. »Er arbeitet so hart. Du solltest dir mehr Mühe geben, Liebes, um das gebührend zu würdigen.«
Will sie damit sagen, dass ich als Ehefrau eine hoffnungslose Versagerin bin, der es nur darum geht, das sauer verdiente Geld des Goldstücks von einem Mann, den ich eigentlich nicht verdient habe, aus dem Fenster zu werfen? Eine schöne Reihe von Tiefschlägen, die sie, Morgan und Hen mir da heute verpassen. Nicht die beste Voraussetzung für eine Party.
»Schon gut, Mum.« Nur zu gern würde ich sie anfahren, aber sie ist Tausende von Meilen weit fort und ich möchte jetzt nicht auch noch einen Streit vom Zaun brechen. Ich beende das Gespräch, winke Art zu und gehe nach oben unter die Dusche.
Als ich wieder herunterkomme, höre ich, wie sich Morgan und Art im Wohnzimmer unterhalten. Verstehen kann ich nichts. Sie sitzen nebeneinander auf dem Sofa und blicken auf, als ich hereinkomme. Art lächelt, sichtbar erleichtert. Morgen dagegen scheint verärgert. Sie ist noch immer im Morgenmantel und hält zwei beinahe identische schwarze Schuhe in die Höhe, beide schmal und elegant, mit einem Pfennigabsatz, der meinen Füßen schon beim Ansehen Schmerzen bereitet.
»Was meinst du, Gen?«, fragt sie. »Ich kann mich nicht entscheiden.«
Art verdreht verstohlen die Augen, und ich muss ein Grinsen unterdrücken.
»Die sind beide fabelhaft«, antworte ich, wahrheitsgemäß.
»Das sind Manolos.« Sie hält einen Schuh etwas höher. »Aber ich glaube, ich sollte diese hier anziehen.« Sie hebt den anderen hoch. »Die sind von einer neuen Designerin, auf die ich in New York gestoßen bin. Du hast bestimmt noch nicht von ihr gehört, aber sie macht sich in den Staaten gerade einen Namen.«
Ich inspiziere die Schuhe etwas genauer. Der Zweite ist eine Spur schmaler, vorn etwas spitzer und der Absatz vielleicht noch etwas dünner.
»Wie schon gesagt, sie sind beide großartig.« Ich schiele zu Art hinüber. Er wirft mir einen flehenden Blick zu, ich soll ihn endlich erlösen. Er steckt immer noch im Anzug von der Arbeit.
»Hey, Liebling, du solltest dich mal umziehen«, sage ich, gehe zu ihm hin und lege ihm die Hand auf die Schulter.
»Du hast recht.« Er lächelt dankbar, steht auf und verschwindet eilig.
Für einen Augenblick scheint Morgan verärgert – ob meinetwegen, wegen Art oder ihr selbst kann ich nicht sagen. Dann lächelt sie und folgt Art hinaus.
Ich atme durch und betrachte mich im Spiegel.
Das Haar ist nun gebürstet und rollt sich über den Schultern. Mein Pony ist immer noch zu lang, und ich habe Ringe unter den Augen, aber dank Bobbi Brown und Urban Decay sehe ich nicht mehr so ausgezehrt aus wie zuvor. Das halb anliegende Top passt zu meinen Kurven; für Morgan hätte es dazu bestimmt etwas
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