Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
10
Bevor wir nach Oxford aufbrechen, rufe ich im Institut an und erzähle Sami, dass ich eine schwere Migräne habe und heute Nachmittag nicht unterrichten kann. Ich habe Schuldgefühle, aber sobald das Telefonat beendet ist, lenkt Lorcan mich mit Fragen zu unserer Route ab. Während des ersten Teils der Fahrt sind wir einfach nur damit beschäftigt, aus London herauszufinden, doch als wir den Motorway erreichen, lehne ich mich zurück und schaue verstohlen zu Lorcan.
Er strahlt eine ruhige Entschlossenheit aus, die mir gefällt. Und wirkt viel entspannter als der dynamische, energische, zielgerichtete, vor Energie sprühende Art. Bei Lorcan klingt das, was wir gerade vorhaben – nach Oxford fahren und in einer Klinik herumspionieren –, wie das Normalste auf der Welt, ein Ausflug aufs Land. Und doch ist er auf seine Weise genauso fokussiert wie Art.
»Also, erzähl mal …«, sage ich. »Du kennst mich kaum, warum also hilfst du mir?«
Lorcan sieht kurz zu mir herüber. »Ich verstehe deine Situation, Gen. Als Elaine und ich uns getrennt haben, ist sie völlig durchgedreht. Sie hat gedroht, dass ich Cal nie wiedersehen würde. Wir haben über das Besuchsrecht gestritten, über alles gestritten. Die Sache war noch nicht geklärt, als ich wegen der Serie zurück nach Irland musste. Das hat an mir genagt. Ich wusste einfach nicht, was Elaine tun würde! Mit Cal ins Ausland gehen? Der Polizei Lügen über mich erzählen? Meinem Sohn Lügen über mich erzählen? Er war damals noch ganz klein – er würde sich nicht einmal mehr an mich erinnern. Ich bin fast verrückt geworden, weil ich nicht wusste, ob ich ihn je wiedersehen würde, ob wir die Sache würden klären können oder ob sie einen Weg finden würde, ihn von mir fernzuhalten. Solange du dir nicht sicher bist, so oder so, kannst du nicht aufhören, darüber nachzugrübeln. Vielleicht passiert dies … vielleicht das … vielleicht was auch immer … Deswegen verstehe ich, dass du es wissen musst .«
Ich nicke, langsam. Es ist die Hoffnung, die mich umbringt. Art hat das nie wirklich verstanden. Womit ich in Gedanken wieder bei ihm bin.
»Was soll ich später denn Art sagen? Ich meine, wenn ich nicht zu Hause bin.«
Lorcan überlegt einen Moment. »Vielleicht brauchst du gar nichts zu sagen. Wann kommt er normalerweise nach Hause?«
»Gegen acht oder neun«, sage ich.
»Der Typ ist eine Maschine«, murmelt Lorcan und verdreht die Augen.
Einen Moment lang schweigen wir beide. Irgendetwas verändert sich zwischen uns, etwas, das mit Lorcans Motiv zusammenhängt, mir zu helfen. Ich kann es noch nicht genau sagen, aber ich weiß, dass es mit Lorcans und Arts gemeinsamer Vergangenheit zu tun hat.
»Du nimmst es Art übel, dass er dich damals rausgeworfen hat, oder?«
Lorcan schaut zugleich verlegen und trotzig drein. »So einfach ist das nicht.«
Wieder herrscht Schweigen zwischen uns. Ich möchte ihn fragen, wie er das meint, aber irgendetwas sagt mir, dass er dann das Thema wechseln wird.
Ich lehne mich auf meinem Sitz zurück. Ich kann Art später eine SMS schicken und ihm sagen, dass ich mich heute Abend mit einer Freundin in der Stadt treffe. Wahrscheinlich bin ich sowieso schon zu Hause, bevor er von der Arbeit zurückkommt.
Ich schaue aus dem Fenster, sehe die Bäume an mir vorbeirauschen. Ich weiß, dass ich mich schuldig fühlen sollte, weiß, dass mein Versuch, Dr. Rodriguez ausfindig zu machen, davon zeugt, dass ich Art nicht wirklich vertraue … dass es, egal wie man es betrachtet, definitiv falsch ist, dass ich das Institut angelogen habe und vorhabe, später auch Art anzulügen. Aber ich fühle mich nicht mehr schuldig.
Das liegt nicht nur an all meinen Zweifeln und meinem Argwohn. Auch wenn ich es mir nicht recht eingestehen will, irgendwie gefällt mir der Gedanke, Zeit mit Lorcan zu verbringen. In seiner Gegenwart habe ich das Gefühl, dass alles möglich ist, fühle mich frei und verspüre sogar den einst so vertrauten Wunsch zu schreiben. Vielleicht wird auch das wieder möglich sein, wenn ich die Wahrheit kenne.
In Oxford angekommen, ist es kein Problem, die Geburtsklinik zu finden. Das Gebäude – teils viktorianische Gotik, teils Glas und Backstein im New-Age-Stil – sieht genauso aus, wie ich es in Erinnerung habe. Beim Anblick der glänzenden Messingklinke an der Eingangstür läuft mir ein kalter Schauer über den Rücken.
An diesem Ort ist meine Tochter gestorben.
Oder wurde mir gestohlen.
Es ist nicht so kalt wie
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