Seit du tot bist: Thriller (German Edition)
Tochter irgendwo dort draußen sein könnte.« Er hält inne. »Stimmt’s?«
»Stimmt«, erwidere ich.
»Okay.« Lorcan steht auf. »Dann lass uns fahren.«
»Was?« Ich stehe auch auf.
»Lass uns zur Klinik fahren.«
»Zur Klinik …? Jetzt? Aber sie ist in Oxford«, sage ich schockiert.
»Und?«
»Wir können doch nicht einfach da auftauchen?«
»Wieso nicht?«, fragt Lorcan. »Egal was diese Büroleiterin gesagt hat, die Klinik hat bestimmt eine Nachsendeanschrift von deinem Dr. Rodriguez. Es wird leichter sein, sie ihnen abzuschwätzen, wenn wir persönlich mit ihnen reden. Überzeugender.«
»Aber was sollen wir sagen?«
»Das können wir uns unterwegs überlegen. Mein Wagen steht draußen. In einer Stunde können wir dort sein, wenn wir uns beeilen.«
Ich starre ihn an. Mein Herz rast. »Aber … aber ich habe heute Nachmittag Unterricht.«
Lorcan zieht die Stirn kraus. »Dann sag den Unterricht ab. Erzähl ihnen, dass du krank bist.«
Ich zögere. Gern tue ich so etwas nicht – es ist unehrlich, und ich lasse das Institut im Stich, aber die Versuchung ist groß. Bei dem Durcheinander in meinem Kopf hätten meine Studenten wahrscheinlich sowieso nicht viel von meinem Unterricht.
»Warum tust du das für mich?«
»Warum nicht?« Lorcan schüttelt ungeduldig den Kopf. »Ich sehe Cal erst morgen wieder. Ich habe keine Arbeit … kein Vorsprechen …« Er hält inne. »Es sei denn, du möchtest nicht, dass ich mitkomme.«
Wieder starre ich ihn an. Ich fühle mich fast wie im Fieberwahn, beängstigend außer Kontrolle.
»Es wird nicht ganz einfach sein«, fährt Lorcan fort. »Und wir brauchen eine Coverstory. Aber auch das können wir uns unterwegs überlegen. Komm schon.« Er steuert bereits auf die Tür zu.
»Warte.«
Er bleibt stehen und dreht sich um. Seine Entschlossenheit hat etwas so Kraftvolles, so Überwältigendes, dass ich nicht eine Sekunde lang klar denken kann. Dann lichtet sich der Nebel in meinem Kopf.
»Denkst du, es könnte stimmen? Dass Beth lebt?« Mir dreht sich der Magen um. »Ist das nicht alles ein bisschen leichtsinnig?«
»Na und? Ich bin Schauspieler. Ich darf leichtsinnige Dinge tun. Und ja, natürlich ist es möglich. Du hast nie ihren Leichnam gesehen, oder?«
»Nein, aber alles spricht dagegen, dass es wahr ist. Es fühlt sich völlig unwahrscheinlich an.«
»Und wenn schon. Du musst es herausfinden, so oder so.« Lorcan lächelt. »Wie dem auch sei, manchmal halte ich bereits vor dem Frühstück sechs unmögliche Dinge für möglich.«
»Okay. Alice im Wunderland .« Ich muss ebenfalls lächeln. Lorcans Gesichtsausdruck und Stimme sind so unglaublich intensiv.
Er macht eine auffordernde Geste. »Also, dann komm«, sagt er. »Du und ich. Was haben wir schon zu verlieren?«
Mit einem Mal fühle ich mich lebendig. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so gefühlt habe.
»Okay.« Ich gehe auf ihn zu. »Lass uns fahren.«
Als ich zurück in mein Klassenzimmer kam, nach der Sache mit Langes Elend und Zahnlücke, hat Miss Evans meine Hose gesehen. Ich hab so getan, als ob mir ein Malheur passiert wäre, und Miss Evans war nett und hat mir eine Hose aus der Kiste mit den Fundsachen gegeben. Aber als ich nach Hause kam, hat Mama gesehen, dass ich völlig durcheinander war, und mich gezwungen, ihr die Wahrheit zu erzählen. Sie war dann wütend und hat geschrien. Sie hat gesagt, dass Langes Elend und Zahnlücke böse Menschen sind. Sie hat gesagt, dass ich besser bin als sie. Sie hat gesagt, dass ich es ihnen heimzahlen muss. Dass es ein gutes Training ist wegen der erwachsenen bösen Menschen, die mir Lügen erzählen und versuchen könnten, mir wehzutun.
Mama hat gesagt, sie meint nicht Dinge wie treten oder kämpfen (oder »Achtung, fremder Mann!« brüllen, wenn es ein erwachsener böser Mensch ist, obwohl auch das in Ordnung wäre), und sie meint auch nicht, dass ich es der Lehrerin erzählen soll. Zuerst habe ich es nicht verstanden, weil ich noch so klein war. Aber dann ist mir klar geworden, dass sie cleveres Kämpfen meint – dass du, wenn dir jemand wehtut, ihm noch schlimmer wehtun musst.
Mama hat gesagt, auch wenn du kleiner bist als die Leute, gegen die du kämpfst, kannst du es ihnen heimzahlen. Sie hat gesagt, dass es ein guter Anfang wäre, hinterlistig gegen Langes Elend und Zahnlücke zu kämpfen, und dass ich mir etwas Besonderes ausdenken soll, mich an ihnen zu rächen.
Und das hab ich dann auch getan.
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