Seit jenem Tag
ist, wie kurz das Leben ist und dass uns viel weniger Zeit zur Verfügung steht, um das zu tun, was wir glauben, hier tun zu müssen, könnte meine Zustimmung nicht größer sein. Alberne ungebetene Tränen lösen sich aus meinen Lidern, Sallys Gegenwart lässt sich fast mit Händen greifen. Ständig wirbeln vor meinem geistigen Auge wie in einem Kaleidoskop Bruchstücke aus den gemeinsam verbrachten Zeiten herum. Ich überlege, mich zu entschuldigen und die Toilette aufzusuchen, doch ich kämpfe gegen das Gefühl an und stelle stattdessen eine Frage – wenn ich normal agiere, fange ich vielleicht auch wieder an, normal zu fühlen.
»Hat er vor, eine Wohlfahrtseinrichtung aufzubauen?«
»Es ist eine Stiftung«, erläutert Mary, »die jungen Frauen Stipendien gewährt, um ihre Ausbildungschancen und damit ihr Leben zu verbessern. Er möchte dafür Gelder in Hollywood, aber auch hier eintreiben.«
Hätte er einfach nur sein Nettoeinkommen von seiner Rolle als beschissener Rockstar in Sh * t Happens 2 gespendet, einem widerlichen und ekelhaften, mehrere Millionen Pfund teuren Film aus dem letzten Jahr, dann hätte er damit eine ganze Universität unterrichten können.
»Wie inspirierend«, wirft Charlotte ein und schiebt ihre in perfektem Platinblond gefärbten Locken zum Pferdeschwanz zusammen, als wolle sie gleich loslegen.
»Meine Überlegung ist folgende. Wir bilden zwei Teams: In einer Woche möchte ich für eine Printkampagne etwas auf meinem Tisch haben, das einen Gegenentwurf zu all dieser auf die Tränendrüse drückenden Bettelei um Geld darstellt und Wirkung zeigt. Wer möchte die Leitung übernehmen?«
Ich spüre, wie ich zusammenzucke. Es fehlt nicht an Kandidaten; Charlotte wittert ihre Chance, und Chris Minky, ein Texter auf meinem Niveau, ist offenbar tollkühn genug, es mit ihr aufzunehmen. Mary behandelt ihn wie Luft und richtet ihren Blick – o Gott, ihr Blick fällt auf mich.
»Livvy …«
»Danke, Mary, aber – ich denke nicht, dass ich diese Woche in der richtigen Verfassung bin … Chris wäre großartig. Oder Amy …«
Ich lasse den Satz unbeendet, denn ihr eisernes Schweigen ist aussagekräftig genug. Ich weiß Bescheid, wenn etwas nicht verhandelbar ist.
»So, dann hätten wir also Livvy gegen Charlotte. Ich erwarte Großes von euch.«
»Möge die Beste gewinnen«, sagt Charlotte und streckt ihre knochige Hand über den Tisch, an dessen Ringfinger ein dicker rautenförmiger Diamant prunkt. »Ich meine das ganz im Ernst, Olivia, viel Glück«, ergänzt sie, hält anmutig ihren Kopf schief und lächelt ohne erkennbare Freude.
»Danke, dir auch«, sage ich, während meine Hand ein oder zwei Sekunden länger, als mir lieb ist, in der ihren gefangen ist – trotz ihres blutleeren Erscheinungsbilds hat sie einen erstaunlich festen Händedruck. Mary teilt die Teams rasch ein und überlässt mir einen Haufen trübsinnig dreinblickender Kollegen, die alle schon jetzt die unvermeidliche Niederlage spüren. Mary legt fest, dass am Montag Abgabetermin ist, aber bevor mein Team sich aus dem Staub macht, gehe ich mit ihm ins benachbarte Konferenzzimmer. Ich muss mich durchsetzen.
»Wir können das schaffen. Wir müssen nur einen Plan entwickeln.«
»Nichts für ungut, Livvy«, entgegnet Chris, »aber sie ist ein Naturtalent. Sie hat einen ganzen Schrank voller Auszeichnungen.«
Ich sehe ihn an und ärgere mich über seine lässige Annahme, dass er seinen Job weitaus besser gemacht hätte. Ich mag Chris irgendwie, doch er ist ein alter Miesepeter. Eigentlich könnte er gut aussehen, aber leider steht ihm seine Eitelkeit im Weg. Er gehört zu der Sorte Mann, die deine ganze Feuchtigkeitscreme aufbraucht und dann jammert, dass keine mehr da ist. Ich muss zusehen, dass ich ihn auf meine Seite kriege: Mir liegt viel daran, dass Mary mir die Leitung übertragen hat, und ich möchte meine Chance nicht vermasseln. Ich weiß den Blick zu deuten, mit dem sie mir gegen meinen Willen diese Aufgabe übertragen hat – trotz ihres aufblitzenden Mitgefühls will sie jetzt wissen, ob ich Profi genug bin, meine Trauer auszublenden.
»Wir werden recherchieren, wir werden uns Kampagnen für artfremde Produkte vornehmen, die funktioniert haben, wir werden uns seine Filme ansehen, um herauszufinden, ob sich ein Muster für seinen Geschmack erkennen lässt. Es ist absolut machbar.«
Rosie wirft mir ein ermutigendes Lächeln zu, wohingegen Chris seine giftige Kombination aus Verbitterung und Fassungslosigkeit
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