Seit jenem Tag
nicht für eine Liebesbeziehung gehalten. Sally wirkte so unbekümmert und wissend, wenn sie über Männer sprach, weshalb ich wohl davon ausging, dass sie einen Initiationsritus auslebte – die leidenschaftliche Affäre mit einem älteren Mann –, dabei allerdings ihr Herz nicht verlieren wollte.
»Hat er das tatsächlich gesagt?«
»Ja, ich würde es doch nicht sagen, wenn es nicht so wäre! Er meinte, ich sei sehr verführerisch« – sie setzte das in wütende Anführungszeichen, die sie in die Luft malte –, »aber er könne Monica nicht verlassen.«
»Wie, er ist verheiratet!?«
»Nein. Er lebt mit ihr zusammen, aber sie schlafen in getrennten Schlafzimmern.«
Selbst ich, die bis vor vierundzwanzig Stunden noch Jungfrau war, konnte erkennen, dass er nur mit ihr gespielt hatte. Wie hatte eine derart weltgewandte Frau wie Sally darauf hereinfallen können?
»Wusstest du es? Ich meine, dass er mit jemandem zusammenlebte, als es anfing.«
»Er erzählte es mir beim zweiten Mal, aber er weinte dabei.« Sie wandte sich mir zu, ihre großen Augen waren weit aufgerissen und verletzlich wie die von Bambi. »Er hat in meinen Armen geweint.« Da ging mir das Herz über, mein geschundenes Herz, das nur zu gut wusste, wie es sich anfühlte, jemanden zu lieben, der zwar Gefühle für dich hatte, aber nicht auf die Weise, die allem einen Sinn zu geben und aus einem Haufen von Tönen eine Symphonie zu schaffen vermochten. Ich legte einen Arm um ihre Schulter und schenkte ihr mit meiner freien Hand ein Glas Wein ein.
»Er ist ein Mistkerl, Sally. Er hat nicht das Recht …« Ich spürte, wie ich mich empört aufplusterte, als ich mir vorstellte, wie dieser aalglatte Blender meine einzigartige Freundin ausnutzte. »Du bist ohne ihn besser dran.« Unglücklicherweise hatte meine mangelnde Lebenserfahrung zur Folge, dass meine Ratschläge sich anhörten, als kämen sie direkt aus dem Kummerkasten einer Jugendzeitschrift.
»Aber ich liebe ihn«, sagte sie und fing erneut hemmungslos zu schluchzen an.
»Mir ist klar, dass du ihn jetzt liebst, aber das wird sich ändern«, entgegnete ich und war mir dabei meiner Gefühle für James nur allzu schmerzlich bewusst. Ich zwang mich, an Matt zu denken. »Es muss.«
»Wird es aber nicht«, widersprach sie mit einer Traurigkeit, die mich hilflos machte. Ich spürte, dass sie sich auf mir unbekanntes Terrain begeben hatte, einen Ort, an dem meine aufmunternden Appelle an das grundsätzlich Gute in der Welt auf steinigen Boden fallen würden.
»Wann hast du dich denn in ihn verliebt?« Ich musste an ihr Gekicher in der Küche denken, ihre schlüpfrigen Geschichten, die sie über ihn zum Besten gab. Es dürfte noch ganz frisch und leicht rückgängig zu machen sein.
»In jener Nacht, als er weinte. Da wusste ich es.«
Sie hatte es wohl die ganze Zeit für sich behalten und sich nach Kräften bemüht, dagegen anzugehen, da sie wusste, dass es falsch war. Sie musste sehr einsam gewesen sein: Ich warf mir vor, nicht schon vor Wochen unser Verhältnis wieder gekittet zu haben. Vielleicht war ich diejenige, die sie verlassen hatte.
»Du Arme. Es tut mir so leid.«
Sie ließ sich gehen, legte ihren Kopf in meinen Schoß und schluchzte eine Ewigkeit. Es war quälend, aber zugleich auch seltsam erregend; die Intimität, die entstand, weil sie es zuließ, sich so schutzlos zu zeigen, hatte etwas ganz Besonderes. Ich hatte das Gefühl, als wäre das Gleichgewicht wiederhergestellt, als wäre ich lebenswichtig geworden, was mich mutig machte. Ich streichelte ihren Arm und redete zärtlich auf sie ein.
»Ich verstehe dich ja. Wenigstens ein bisschen.«
»Wie kommt das?«, fragte sie und drehte sich dabei auf den Rücken und sah mich durch ihre schwer getuschten Wimpern an. Sally trug immer mehrere Schichten von diesem Zeug auf, die schwärzeste Wimperntusche, die sie finden konnte.
»Er heißt James«, begann ich und wurde selbstsicherer, als ich ihren gebannten Gesichtsausdruck sah. Ich erzählte ihr alles: wie lange ich ihn schon liebte, dass ich auf ihn gewartet hatte und dass ich nun endlich aufgehört hatte, auf ihn zu warten. Meine Schilderung war tränenreich, und jetzt war es an ihr, mich zu trösten. So nah wie in diesem Moment hatte ich mich noch nie jemandem gefühlt.
Hätte ich nur gewusst, was für ein kostbares Gut Vertrauen ist – und dass ein Leben nicht ausreicht, um die Narben zu heilen, wenn es erst einmal missbraucht wurde.
Kapitel 4
Mag sein, dass es
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