Seit jenem Tag
anderen Person sprechen.
»Ich könnte es versuchen …«, erwidere ich und ärgere mich über meine Zurückhaltung. Ich würde ihm gern sagen, dass ich nicht weiß, wie ich das angehen soll, nicht weiß, wie ich meine Version von Sally neben seine legen soll, ohne sie zu beflecken. Sein Blick verfinstert sich. Wer kann ihm das verdenken? Er sieht in mir bestimmt nicht mehr als eine neugierige Gafferin, die sich an seiner Trauer weidet, um dann wieder unbekümmert zur Tagesordnung überzugehen. »Nein, ruf mich bitte an«, füge ich hinzu und strecke unwillkürlich die Hand nach seinem Arm aus, um die Kluft zwischen uns zu überbrücken, aber sein Arm fühlt sich unter meinen Fingern steif und unbeugsam an. »Ich schreibe dir meine Telefonnummer auf.« Peinlich berührt, löse ich meine Hand, um in meiner Handtasche nach einem Stift zu kramen.
»Danke«, sagt er, und ich schaue zu ihm hoch, weil mich der Tonfall seiner Stimme aufmerken lässt. Sein Dank scheint tief empfunden zu sein, und ich halte seinen Blick eine Sekunde lang fest und versuche ihm zu vermitteln, dass mein Zögern nicht auf Gleichgültigkeit oder Trägheit beruht. Es war Angst, schlicht und einfach Angst. Sein Telefon vibriert in seiner Hand, und der Moment ist vorbei. »Ich muss den Anruf entgegennehmen«, sagt er, und alle Verletzlichkeit ist aus seinem Gesicht gewichen, das sich plötzlich verhärtet.
»Auf Wiedersehen«, verabschiede ich mich lautlos und entferne mich, doch ich glaube nicht, dass er es wahrnimmt. Ich höre seine Stimme, als ich um die Ecke biege.
»Ich kann Ihnen nur zu Ihrem perfekten Timing gratulieren«, sagt er kalt und mit kontrollierter Wut in seiner Stimme. »Würden Sie das zu einem anderen Zeitpunkt von mir verlangen, wäre das schon sehr ungewöhnlich, aber es heute zu tun, übersteigt mein Fassungsvermögen.«
Kapitel 3
Ein Schockzustand ist etwas Merkwürdiges, denn man verliert jegliches Zeitgefühl. Es ist der Tag nach der Beerdigung, und meine Verwirrung ist größer denn je zuvor. Nachdem wir es nun hinter uns gebracht haben und ich die bittere Wahrheit akzeptieren musste, dass man Sally tatsächlich in diese hölzerne Kiste eingesperrt und darin dem Erdboden überantwortet hat, kann ich es nicht mehr leugnen. Ich fühle mich anders: Ich fühle mich, als ob ich etwas über Sally wüsste, wovon sie selber überhaupt keine Ahnung hatte. Nach außen hin geht mein Leben seinen gewohnten Gang – das heiße Zitronenwasser, das ich morgens immer als Erstes trinke, der Aufbruch um 8:15 Uhr zur U-Bahn –, aber der Autopilot wurde ausgeschaltet. Die Welt kommt mir zerbrechlich und schrill vor, ihre Farben und Geräusche bombardieren mich wie brennendes Fett, das aus der Pfanne spritzt.
Auch James hat die Wohnung wie üblich um 6:30 Uhr verlassen, zeitig genug, um vor seiner ersten Sitzung noch die Hälfte des Ärmelkanals zu überqueren. Er hat auf die Müslipackung einen Notizzettel geklebt, Kopf hoch! steht darauf mit einem x – ich stecke ihn mir in meine Handtasche, bevor ich gehe.
Die U-Bahn-Station ist der reinste Hindernisparcours. Als ein übervoller Zug einfährt, bleibe ich auf dem Bahnsteig und lasse die anderen Fahrgäste ohne mich einsteigen. Gelassen beobachte ich die hektischen Pendler, die sich unter Verrenkungen eine kleine Nische sichern, wobei die gegen die Scheiben gepressten Gesichter an ein Gemälde von Edvard Munch erinnern. Das ganze Sich-Abmühen Tag für Tag kommt mir so sinnlos vor, es ist nichts als verschwendete Energie. Ich lasse vier Züge vorbeifahren, ehe mir klar wird, dass ich mich nicht in einen existenzialistischen Philosophen verwandelt habe und mir die Demütigung der Victoria Line nicht erspart bleibt. Drinnen ist es grauenhaft, man bekommt keine Luft und in der Enge klopft mein Herz wie verrückt. Du darfst nicht weinen, darfst nicht weinen. An der Station Warren Street steige ich zittrig und gequält aus: Ich verlasse den Untergrund, um oben frische Luft zu schnappen, und versuche mein emotionales Gleichgewicht wiederherzustellen. Ständig muss ich an William denken, wie mag er sich heute beim Aufwachen gefühlt haben, wie falsch mag es ihm vorkommen, dass das Leben gnadenlos einfach weitergeht und die Beerdigung nicht mehr als eine Erinnerung ist. Würde er, wäre da nicht Madeline, überhaupt weiterleben wollen? Ich gehe davon aus – trotz seiner Liebe zu Sally habe ich einen Gleichmut an ihm wahrgenommen, der über sein Vatersein hinausging. War es das, was sie in
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