Seit jenem Tag
mir herausströmen fühlte, als ich Nathaniel zum ersten Mal sah, machte mir fast Angst in ihrer Grenzenlosigkeit –, das bedeutet allerdings nicht, dass ich nicht wehmütig auf das zurückblicke, was einmal war. Nämlich auf die Sorglosigkeit und Unbekümmertheit meiner Schwester in jungen Jahren.
»In zwei Monaten wirst du wieder arbeiten und einen ganz normalen Tagesablauf haben.«
»Ich weiß, aber … Livvy, ich brauche neunzig Minuten, um zum Laden zu gehen und eine Packung Butter zu kaufen. Ich habe es mit der Stoppuhr gemessen. Im Moment kann ich mir das wirklich noch gar nicht vorstellen.«
»Es sind doch gerade mal vier Monate, natürlich musst du dich erst dran gewöhnen.«
»Es geht nicht um das Praktische. Ich habe das Gefühl, erst noch herausfinden zu müssen, wer zu mir gehört, weißt du? Es sind nicht diese schrecklichen Übermuttis, die sich auf Facebook darüber auslassen, auf welche Klamotten von Boden es gerade Rabatt gibt, aber ich werde auch nicht mehr bis acht Uhr abends im Büro sein.« Sie winkt ab und schenkt mir nach. »Ich bin albern, achte nicht auf mich.« Für mich hört es sich allerdings alles andere als lächerlich an. Das war einer der Gründe, weshalb ich Sallys Freundschaft so lange zu schätzen wusste – im Zusammensein mit ihr hatte ich das Gefühl, sie versteht mich, hinterfragt aber auch alles, was ich fühle und denke. Wir brauchen alle jemanden, der uns einen Spiegel vorhält, doch wir müssen verdammt aufpassen, dass es kein Zerrspiegel ist.
»Du bist nicht albern.«
»Doch, das bin ich, ich bin einfach müde. Das Wichtigste dabei ist allerdings, dass es einfach umwerfend ist, ein Kind zu haben.« Sie streift mich mit einem schuldbewussten Blick. »Was aber nicht bedeutet, dass du auch … man braucht sie nicht zwingend.«
Ich möchte nicht darüber nachdenken. Ich möchte an meiner kindischen Gewissheit festhalten, dass das Schicksal, wenn man nur lang und intensiv genug zuhört, einem ins Ohr flüstert, ob und wann man bereit ist, Mutter zu werden.
»Außerdem ist Phil wie für dich geschaffen.«
»Hoffentlich. Wenn er die hier sieht, überlegt er es sich vielleicht noch mal«, erwidert sie. Sie schiebt die Fotos wieder in den Umschlag zurück und nimmt sie vom Tisch.
Das ist er, das ist er definitiv, aber ich glaube nicht, dass jemals große Leidenschaft dahintersteckte, eher Bequemlichkeit. Vielleicht braucht sie genau das nach dem schwelenden, stumm ausgetragenen Ärger in der Ehe unserer Eltern, doch ich weiß, dass ich mich damit nicht zufriedengäbe – obwohl das Leben bestimmt einfacher würde. Mir kommt William in den Sinn, sein Gesicht, als er über Sally sprach. Gibt es wirklich für jeden den Richtigen? Ich hoffe es. Aber was ist, wenn der Passende zwar der für dich Richtige ist, du allerdings nicht für ihn? Und schon muss ich an James denken, obwohl ich mich mit aller Macht dagegen wehre.
Als es auf halb zehn zugeht, sehe ich, dass Jules, die über vier Monate hinweg nie mehr als drei Stunden Schlaf bekommen hat, zu gähnen anfängt. Ich entschuldige mich und ziehe gerade meinen Mantel an, als es an der Tür klingelt.
Mum kommt mit einem roten Samtschal, den sie um ihre Schultern drapiert hat, in die Küche gerauscht. Ihr Lippenstift hat dieselbe Farbe, das weißblonde Haar hat die windige Nacht zerzaust. Sie ist keine glamouröse Erscheinung an sich, aber sie hat Charisma.
»Alle meine Mädchen zusammen! Wie wunderbar. Ich hätte gern ein Glas Rotwein, Julia.« Meine Schwester schüttelt die Flasche und sieht mich fragend an, ich nicke zustimmend. Sie stellt den Wasserkessel an, um für sich Pfefferminztee zu kochen, und unterdrückt höflich weiteres Gähnen.
»Entschuldigt, dass ich so spät komme. Ich war in meinem Zumbakurs, und der zog sich hin. Das ist so befreiend! Ich denke, Livvy, so was könnte dir auch guttun, damit nicht immer nur der Kopf arbeitet, sondern auch mal der Körper.«
»Ich bin mit Yoga ganz zufrieden, Mum.«
»Aber das ist so kontrolliert, Liebling. Die Befreiung durch Zumba, ich finde gar keine Worte dafür …«
»Dann hast du also bis neun Uhr dein Zumba-Ding gemacht?«, hake ich nach.
»Nein, nein. Danach ging ich noch einen Happen essen, ganz köstliche Tor-tel-loni«, sagt sie mit einem lächerlichen italienischen Akzent, »mit einem exquisiten Pesto. Solche Mahlzeiten machen einen froh, am Leben zu sein.«
Jules und ich verdrehen ganz leicht die Augen. Wir sind gut darin, wir können uns durch ein
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