Seit jenem Tag
Hotel liegt einen Steinwurf von Harrods entfernt im Herzen von Knightsbridge, es ist ein hohes imposantes Gebäude, an dem ich immer nur vorbeigelaufen bin – es gab bisher keinen Grund hineinzugehen. Ich betrete die gedämpfte Wärme der Lobby mit ihrer angenehmen Beleuchtung und den livrierten Portiers. Cocktailgläser klirren in der Bar, im Hintergrund ist das stetige Summen von Gesprächen zu vernehmen: In wie vielen Bars habe ich mich mit dir herumgetrieben, Sally? An wie vielen Abenden haben wir eine Runde nach der anderen bestellt, als könnten wir die Zeit in die Länge ziehen und in unseren Sentimentalitäten verharren? Ich nehme den mit Polsterung ausgekleideten Lift hoch in den sechsten Stock und versuche meine Nerven zu beruhigen und mich an die flüchtige Leichtigkeit zu erinnern, die ich letzten Abend am Telefon verspürt hatte.
Madeline öffnet mir die Tür in einem langen weißen Nachthemd im viktorianischen Stil. Sie wirkt fast geisterhaft.
»Hallo«, sagt sie und richtet ihren festen Blick zu mir nach oben.
»Hi, Madeline!«, begrüße ich sie und hasse mich für meinen herablassenden Unterton – es ist nicht so, dass ich Kinder nicht mag, doch ich weiß einfach nicht, wie ich sie ansprechen soll. »Ich bin Olivia. Es freut mich, dich kennenzulernen.«
William taucht, aus der riesigen Suite kommend, neben ihr auf. Er trägt ein gestreiftes Hemd, dessen Ärmel er im halbherzigen Versuch, locker zu wirken, hochgekrempelt hat und das in einer dunklen Hose mit Gürtel steckt. Einen kurzen Moment lang erhellt ein Willkommenslächeln sein Gesicht, aber das Leuchten in seinen Augen verschwindet genauso schnell, wie es gekommen ist.
»Komm rein, komm rein. Ich fürchte, an der Bettgehzeit müssen wir noch etwas arbeiten.«
»Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen«, versichere ich ihm überstürzt. »Ich finde es schön, Madeline richtig kennenzulernen.« Ich betrachte sie und versuche herauszufinden, welche Teile an ihr von Sally sind – dieses dunkle Haar, das sich von ihrem weißen Nachthemd abhebt, ihr keckes Näschen –, aber auch Williams schütteres Haar ist dunkel, und Stupsnasen haben wohl die meisten Kinder.
»Wirst du gern Madeline genannt, oder rufen sie dich Maddy? Mich nennen viele Leute Livvy.«
»Ich heiße Madeline«, antwortet sie.
»Und das ist auch ein ganz toller Name«, sage ich und glaube tatsächlich etwas von Sally zu spüren, denn sie spricht in demselben Ton, der keine Widerworte duldet. »Ich habe dir ein Geschenk mitgebracht«, sage ich.
Ich habe es während meiner Mittagspause auf die Schnelle bei Hamleys gekauft, aber da alles, was nicht nach Arbeitsessen aussieht, Marys perfekt gezupfte Augenbrauen in die Höhe schnellen lässt, kam zur Panik, ein Geschenk finden zu müssen, auch noch die, von meiner Chefin zur Rede gestellt zu werden. Ich entschied mich für einen plüschigen braunen Teddybär – ein niedliches Kuscheltier, das sie knuddeln kann –, der nun verpackt in meiner Handtasche liegt.
»Das ist aber nett, aber das hättest du wirklich nicht tun sollen«, wirft William ein. »Außerdem müssen wir dir vorher deinen Mantel abnehmen und einen Drink organisieren. Wäre dir ein Gin Tonic recht?«
»Ja«, sage ich – ich weiß nicht warum, Sally hat mich schließlich schon vor langer Zeit vom Gin weg zum Wodka gebracht und lasse mir dann aus meinem Mantel helfen. Ich kann mich nicht erinnern, wann dies außer einem Kellner das letzte Mal jemand für mich getan hat. »Ich bringe ihn nur rasch nach nebenan«, sagt er und verlässt den Raum, doch in dem Moment klingelt das Telefon, das er nie aus der Hand zu legen scheint. Jetzt sind Madeline und ich allein, abgeschnitten von der Außenwelt in dem riesigen Wohnzimmer. Es ist unglaublich vornehm – überall liegen dicke Kissen und stehen elegante Tischlampen –, aber das Gefühl, sich in einem unpersönlichen großen Hotel zu befinden, bleibt dennoch. Madeline mustert mich von ihrem Aussichtspunkt auf dem Sofa, wo ihre kleinen Füße über dem dicken cremefarbenen Teppich baumeln und sie darauf wartet, dass ich, die sogenannte Erwachsene, den nächsten Schritt unternehme. Verrät ihr Gesichtsausdruck – das vorgeschobene Kinn, diese brennenden Augen – ihre Wut darüber, dass ich sie nicht auf das Schreckliche anspreche, was passiert ist, oder will sie damit meinen Versuch abblocken, ihr näherzukommen?
»Ich kannte …« Ich würde Sallys Namen gern laut aussprechen, deren Abwesenheit und
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