Seit jenem Tag
Schuldgefühle sind, die mich am nächsten Abend in Jules’ Haus treiben, das Bedürfnis, meiner Behauptung, beschäftigt zu sein, im Nachhinein den Anstrich von Wahrheit zu geben. Den ganzen Tag lang ließ diese Lüge mir keine Ruhe, immer wieder war ich versucht, nach dem Telefon zu greifen, nur um von einer Kraft so stark wie die Erdanziehung davon abgehalten zu werden.
Ganze sieben Minuten lang stehe ich auf der Schwelle und trete von einem Bein aufs andere, weil ich mich nicht traue, noch mal zu klingen, damit der vier Monate alte Nathaniel nicht aus seinem hart erkämpften Schlaf aufschreckt. Endlich taucht Jules auf, ein Klumpen Karottenpüree in den Stirnfransen.
»Sorry, sorry, sorry«, ruft sie und schließt mich in ihre Arme. »Du wartest doch noch nicht lang, oder?«
»Nein«, lüge ich, eine Notlüge diesmal, und gebe mir Mühe, nicht an ihrem Ohr mit meinen Zähnen zu klappern. »Hier, habe ich mitgebracht«, verkünde ich und überreiche ihr eine Flasche Wein.
»Oooh, danke schön!« Sie führt mich hinunter in die Küche. »Aber pass auf, dass ich nicht mehr als ein Glas trinke.«
Meine Schwester ist vier Jahre älter als ich und sieht selbst mit Karottenpüree und trotz des Schlafentzugs reizend aus. Von Jules geht eine ansteckende Wärme aus, eine Lebendigkeit, die sie hübscher macht, als sie eigentlich ist. Womit ich nicht sagen möchte, dass sie nicht attraktiv ist, aber ihre Schönheit kommt wirklich von innen. Während ich meinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten bin, kommt sie nach Mum. Sie hat aschblondes, leicht gewelltes Haar, eine kurvenreiche Figur und die Art von Lücken zwischen den Zähnen, die eher süß aussehen als ein kieferorthopädischer Notfall. Die Jungs himmelten sie an, auf die bestmögliche Weise – nicht, weil sie sie für eine Femme fatale hielten, sondern weil sie einfach nicht anders konnten. Sie wurde spielend damit fertig und ließ es sich nicht zu Kopf steigen, nahm sich aber schon recht früh vom Markt, indem sie ihren Freund von der Uni heiratete, nachdem sie beide ihren Abschluss gemacht hatten. Wenn sie nicht wie jetzt in Elternzeit ist, ist sie Architektin, Partner einer kleinen Firma vor Ort.
»Wo ist Phil?«
»Elternabend«, sagt sie und schenkt den Wein ein. »Er hat das ganze Wochenende verschiedene Analogien für Ihr Sohn ist ein Psychopath geprobt.«
So gern ich meinen Schwager mag, finde ich es doch schöner, wenn ich Jules für mich allein haben kann. Ich lasse meinen Blick durch ihre Küche schweifen, die mir immer sehr viel erwachsener vorkommt als meine. Klarer Fall, sie ist das Reich einer verheirateten Frau: Sie ist aufgeräumt, alle Anschlüsse und das unbewegliche Inventar sind mit Sorgfalt ausgewählt im Unterschied zu dem Ding aus Faserplatte, das unsere Vermieterin irgendwann im letzten Jahrhundert hat einbauen lassen. Die vier Jahre, die meine Schwester und mich voneinander trennen, kommen mir manchmal vor wie vier Jahrzehnte.
»Prost«, sage ich. Jules hat eine gemütliche Sitzecke entworfen, die zur Küche hin offen ist, und ich schlage meine Beine unter meinen Hintern und sinke ein in die weiche Sofapolsterung.
Sie stößt mit mir an und geht dann durch den Raum, um einen Blick auf den Herd zu werfen.
»Leider kommt alles aus dem Karton, und das einzige Gemüse ist Püree. Wenn du Skorbut bekommst, erzähl es bitte nicht Mum. Oh, sie kommt übrigens irgendwann vorbei. Sie meint, sie wisse gar nicht mehr, wie du aussiehst. Und als sie zum Babysitten hier war, hat sie ihren Kindle vergessen.«
Es ist schon fast einen Monat her, das stimmt. Mein Besuchsplan fällt immer eher zugunsten von Dad aus, und da ich mir letzten Mittwoch mit ihm einen nicht enden wollenden tschechischen Experimentalfilm angesehen habe, hatte ich das Gefühl, für die nächsten Wochen meiner Pflicht Genüge getan zu haben.
Jules setzt sich neben mich und streicht mir in langen, tröstlichen Bewegungen über den Arm.
»Jetzt erzähl mir alles genau«, fordert sie mich auf.
»Es war …«
Und ich versuche es ihr zu beschreiben, aber das Gefühl und die mit ihm einhergehende kollektive Angst lassen sich so schwer in Worte fassen. Wir Menschen wissen so wenig über uns selbst, bis es zu spät ist und es nicht mehr weitergeht: Was ist die globale Erderwärmung denn anderes als ein fröhlicher kollektiver Stinkefinger, der uns mit unserer eigenen Sterblichkeit droht? Eigentlich möchte ich Jules gar nicht erzählen, wie es war. Meine Schwester ist eine
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