Seitensprung ins Glück
Mutter?
Als der Verkäufer weg ist, widmet sich meine Großmutter wieder mir, und das Nächste, was sie sagt, gibt mir einen ersten Hinweis auf die Antwort. »Ich habe die vergangenen drei Jahrzehnte meines Lebens damit zugebracht, dafür zu sorgen, dass du nicht wie deine Mutter wirst«, erzählt sie mir ohne Umschweife. Sie fährt sich mit der Hand durch die krausen Löckchen. »Wo auch immer die stecken mag.«
Nachdem die Sonne Stunden später gnädigerweise untergegangen ist, liege ich wieder im Bett und blättere gelangweilt in ein paar Heften herum. Frauenzeitschriften, Nachrichtenmagazinen, Buchrezensionen, Klatschgeschichten – das ist für mich Prozac, Valium, Lithium und Ritalin in einem.
Meine Haut fühlt sich feucht an. Ich wische mir mit einem in Aloe getränkten Kleenex über die Augen, während ich automatisch Seite für Seite für Seite umblättere, als würde ich, wenn ich nur lange genug suche, den Artikel mit dem Titel ROSIES ELTERN ENTDECKT finden.
Der Himmel weiß es, Helen hat mir nicht erzählt, wer sie sind. Oder waren. Sie schien nach ihrer letzten Bemerkung über meine Mutter bei dem Buick-Händler in eine Art innere Emigration gegangen zu sein. Es war sinnlos, zu versuchen, mehr herauszufinden, obwohl ich trotzdem nachgefragt habe.
Ich versuche, mich zu konzentrieren, normal zu atmen. Ich greife nach dem Büchlein auf meinem Nachttisch, Buddhismus für Langsame, und lese:
Es ist besser, einen Tag damit zu verbringen, die Geburt und den Tod aller Dinge zu betrachten, als hundert Jahre ohne Beginn und Ende zu betrachten.
– BUDDHA –
Ich kneife die Augen zu und denke darüber nach. Ich schließe das Buddha-Buch. Ich greife mir die erstbeste Cosmopolitan vom Stapel. Die Hochglanzseiten quellen nur so über vor guten Ratschlägen.
WIE SIE ALS FRAU FLIRTEN UND SPASS HABEN! verkündet gleich der erste Artikel. Beim Überfliegen stelle ich fest, dass damit anscheinend einfach nur gemeint ist, ich solle meine großen Brüste zur Schau stellen. Das könnte ich ja tatsächlich tun, aber …
Ich weiß nicht, wer meine Eltern sind.
Das Telefon klingelt. Es klingelt wieder, und ich gehe immer noch nicht dran, obwohl es Ham sein könnte. Ich bin sicher, dass es nicht meine Mutter ist, da es ihr anscheinend total die Sprache verschlagen hatte, als ich sie vor ein paar Stunden zu Hause absetzte. Egal. Sie ist sowieso nicht meine Mutter.
Muss. Zeitschriften. Lesen. Ich blättere einige Seiten weiter. OBEN OHNE steht über dem Cosmo -Mann des Monats. Ich starre auf die entblößte, eingeölte Brust, den Waschbrettbauch, an dem jeder Muskelstrang an eine Orgelpfeife erinnert, auf die blendend weißen Zähne. Sein Lächeln wirkt unglaublich aufgesetzt. Ich widme mich der Rubrik »Ratschläge für Männer«, Sachen, die dein Typ nie zu dir sagen sollte, hier schwarz auf weiß. Die Liste scheint nur Selbstverständliches zu enthalten, die offensichtlichen Fettnäpfchen, die ein Mann vermeiden sollte, wenn er mit einem Cosmo -Girl ausgeht. Hast du zugenommen? Die Serviererin ist echt süß! Wollen wir uns die Rechnung teilen?
Deine Mutter nervt.
Ich schlage die Zeitschrift zu. Wie oft hat Teddy mich in den vier Jahren unserer Ehe daran erinnert? Aber was war es doch gleich, was Ham heute im Restaurant über Helen gesagt hat? Ihre Mutter ist eine echte Herausforderung. Es ist nicht leicht mit ihr, hm? So nett hat noch nie jemand gesagt, dass meine Mutter nervt. Obwohl sie gar nicht meine Mutter ist.
Ich stelle die kalte Tasse Tee zur Seite und ziehe die Decke hoch bis zum Kinn. Ich mache das Licht aus, aber der Schlaf will sich nicht einstellen. Wie kann man schlafen, wenn man nicht weiß, wer die eigenen Eltern sind? Wenn man nicht weiß, warum die eigene Mutter verschwunden ist und warum Helen froh ist, dass ich nicht bin wie sie? Sie hat sich verkehrt herum durch den Kanal geackert, hat meine Mutter immer den Postboten, Lehrern, Nachbarn und jedem, der bereit war, zuzuhören, erzählt. Aber durch wessen Kanal? Nicht Helens. Und wer ist dann mein Vater? Etwa auch irgend so ein Versager? Ich zucke zusammen, als mir gegen meinen Willen die Lücken in der Küche einfallen, die auf Teddys Konto gehen: der fehlende Untersatz für die Mikrowelle.
Der Stapel Kochbücher auf dem Boden. Der Servierwagen, der von der Wand verschwunden ist wie ein unartiger Junge aus der Reihe der Mitschüler. Ich habe ganz sicher einen Versager geheiratet . Da ist es nur logisch, dass ich auch von einem gezeugt
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