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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary E Mitchell
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Angelegenheiten einzumischen sind zwei Paar Schuhe, weißt du. Aber nein, ich erwarte nicht wirklich, dass du das verstehst.«
    »Oh, jetzt legt sie wieder los. Unsere Sozialarbeiterin spuckt große Töne.« Meine Mutter rutscht auf dem Sitz herum und streicht ihren weiten Rock glatt. »Was gibt es denn Persönlicheres als eine Mutter und eine Tochter? Man mischt sich nicht ein, wenn man sich um seine Tochter sorgt.«
    »Rufst du deshalb jede Woche Marcie bei der Arbeit an?«
    »Sie ist meine Freundin, Fräuleinchen. Verstanden? Wenn es nach deinen verdrehten Ansichten über das Universum ginge, dann darf ich wohl nicht mehr mit Freunden telefonieren?«
    Ich reiße das Lenkrad herum, sodass wir beide fast ein Schleudertrauma kriegen, und steuere den Wagen von der Straße auf einen Parkplatz. Meine Mutter schnappt nach Luft, und ihre Hand fliegt an ihre Kehle. Ich schalte auf Parken und ziehe die Handbremse an, und dann sitzen wir da. »Ich will nicht, dass du dich einmischst«, sage ich, nachdem meine Hände aufgehört haben zu zittern. »Und ich will deine Hilfe nicht. Ich bin nicht mehr auf deine mütterliche Weisheit angewiesen.«
    »Kinder brauchen immer die Unterstützung ihrer Eltern.«
    »Ich bin erwachsen!«, schreie ich. »Wann kapierst du das endlich? Ich bin zweiunddreißig Jahre alt, und ich weiß selbst, wie man einen Mann findet!«
    »Du weißt gar nichts«, murmelt meine Mutter, und beim Klang ihrer Stimme drehe ich mich um und sehe sie an.
    »Du weißt nicht mal über den Beginn deines Lebens Bescheid.« Sie sieht mich unumwunden an. »Du weißt nicht mal, wer zum Teufel du bist.« In ihren Augen stehen Tränen, und eine läuft über eine Furche in ihrer Wange, die mir vorher nie aufgefallen ist.
    »Warum sagst du so etwas, Ma?«
    »Weil ich nicht deine Mutter bin«, sagt sie.
    »Ach, verstößt du mich jetzt? Verdiene ich nicht mehr, deine Tochter zu sein oder was? Weil ich über meinen eigenen Vater Bescheid wissen will? Weil ich will, dass du dich aus meinen Angelegenheiten raushältst?«
    »Ich bin deine Großmutter«, sagt sie nur. »Deine eigene Mutter ist Gott weiß wo, und zwar, seit du ein Säugling warst.«
    Ich suche in ihrem Gesicht nach dem verräterischen Aufblitzen, das manchmal zu sehen ist, wenn sie mich aufzieht. Nichts zu sehen.
    Ich spüre, wie meine Hand vorschießt, um sie zu schlagen oder an mich zu ziehen – ich weiß es nicht. Es gibt eine Menge Dinge, die ich nicht weiß, was das zum Beispiel für Geräusche sind, die aus meinem Mund kommen. Oder warum in meinem Schädel kleine Lichter wie Nadelstiche zu spüren sind.
    »Ma«, krächze ich und greife nach ihrer Hand, die sich plötzlich in meinen Fingern so zerbrechlich wie ein Bündel zarter Zweige anfühlt. »Was redest du denn da?«
    Sie fährt sich mit der freien Hand über die Augen, bevor sie mich ansieht. Ihre Wimperntusche ist verschmiert. Ihre Augen sehen alt aus, müde, und liegen tief in den Höhlen. Sie sieht aus, als hätte sie eine Million Jahre gelebt. Wer ist diese Frau? Ich starre in ein Gesicht, das sich mir seit meiner Geburt ins Gedächtnis gebrannt hat, doch wessen Gesicht ist das?
    Es ist das Gesicht der Mutter meiner Mutter. Das erzählt sie mir jetzt.
    Jemand klopft an mein Fenster und lässt uns beide zusammenzucken. Als ich mich umdrehe, sehe ich einen grinsenden Mann dicht davor. Widerwillig öffne ich das Fenster, und der Mann sagt: »Wollen die Ladys ein Auto kaufen?« Ich blicke an ihm vorbei und entdecke das riesige Schild mit der Aufschrift BUICK, das inmitten glänzender Fahrzeuge an einem Mast baumelt.
    Mein Vater ist mein Großvater, denke ich.
    Der Mann im Fenster lächelt geduldig in seinem verknitterten weißen Hemd. Die rote Krawatte flattert im Wind, und der Fleck in ihrer Mitte schwingt vor meinen verschwommenen Augen hypnotisierend hin und her, hin und her. Ich versuche, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Ich finde gerade heraus, wer meine Mutter ist und wer mein Vater nicht ist, und zwar auf dem Parkplatz eines Buick-Händlers.
    »Wir haben alles, was wir brauchen, mein Lieber«, höre ich meine Mutter zu dem Mann sagen. »Lassen Sie sich nicht stören«, fügt sie hinzu.
    Ihre Stimme hat wieder die gewohnte Autorität und Stärke, doch als ich ihr ins Gesicht sehe, bemerke ich, dass ihre Augen noch immer gerötet sind. Die Muskeln um ihr Kinn scheinen erschlafft zu sein, als hätte sie aufgegeben. Sie sieht aus wie eine Großmutter. Meine Großmutter. Aber wer ist dann meine

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