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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary E Mitchell
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ihre Augen sind wunderbar und ihr blondes Haar ist so schön wie das einer Zwanzigjährigen. »Meinen Sie den Zimmermann?«, fragt sie.
    Ja! Ja, ich meine den Zimmermann!, brülle ich in Gedanken. »Ich glaube schon«, sage ich stattdessen zu ihr, in der Hoffnung, ruhig, beherrscht und nicht zu eifrig zu klingen. Die Serviererin lächelt wissend.
    »Sie suchen also nach Johnny, meine Liebe?«
    Johnny . Die Serviererin nennt meinen Vater Johnny.
    »Na ja …«
    Doch! Genau den!, brüllt die Stimme in mir.
    »Äh, ja, ich glaube schon.« Ich nehme einen großen Schluck von dem heißen Kaffee, ohne vorher Milch hineinzugeben. Er verbrennt mir die Lippen und stürzt in meinen übersäuerten Magen hinunter. Die Frau betrachtet mich noch immer, als wäge sie ab, was sie mir als Nächstes erzählen soll.
    »Sie bauen gerade ein Haus drüben in Albatross«, sagt sie. »Aber Sie wissen vermutlich nicht, wo das ist, nicht wahr? Wo Sie doch nicht von hier sind und so.«
    Ich wäre am liebsten sofort aufgesprungen. »Wissen Sie, wo es ist?«, frage ich. »Können Sie’s mir beschreiben?«
    Wieder drückt sie meine Hand, und ihre warme Handfläche ruht auf meinen eisigen Knöcheln. »Warum essen Sie nicht erst mal was?«, sagt sie. »Und dann zeig ich’s Ihnen.«
    Ich würge das Hummerbrötchen runter, das sie mir empfohlen hat. Als mein Teller leer ist, belohnt sie mich mit einem gefalteten Platzset, auf dessen Rückseite sie die Wegbeschreibung zur Albatross Lane notiert hat.
    »Danke«, schniefe ich, und einmal mehr treten mir diese blöden Tränen in die Augen. Fast hätte ich sie umarmt.
    Sie drückt meinen Arm, als ich im Mantel neben der Tür stehe. »Passen Sie auf sich auf, meine Liebe«, sagt sie. Sie dreht sich in einem Wirbel aus blonden Haaren um, und weg ist sie.
    Die auf das Platzset gekritzelte Wegbeschreibung führt mich über holprige Straßen am Meer entlang. Zu meiner Rechten erstrecken sich die Strände, zu meiner Linken sehe ich große Häuser auf oder in den Sanddünen. Als ich über das Wasser blicke, meine ich fast, am Horizont kleine Inseln zu erkennen. Martha’s Vineyard? Nantucket? Oder täuscht das? Ich habe keine Ahnung. Ich komme zur nächsten Abfahrt, auf eine Straße Richtung Heron, die mich zu einem Haus bringen wird, das in Albatross gebaut wird. Die mich zu meinem Vater bringen wird. Der die Frau hinter dem Steuer des Wagens mit New Yorker Kennzeichen betrachten wird und … ja, und was dann?
    Etwas zu hastig fahre ich rechts ran und halte auf einem Streifen Sand. Müdigkeit macht sich in jedem Muskel meines Körpers breit. Ich lege die Stirn aufs Steuer. Nur das Adrenalin hält mich wach. Es drängt mich, den Kopf wieder zu heben, die Sonnenblende herunterzuklappen und mein Makeup im Spiegel zu kontrollieren. Das Gesicht, das mich ansieht, wirkt so aufgewühlt wie das winterliche Meer. Das kastanienbraune Haar ist windzerzaust. Die Haut ist leichenblass. Da bin ich, eine zweiunddreißigjährige Frau, die am Rand einer Schotterstraße angehalten hat und für einen Vater, den sie nie zuvor gesehen hat, Rouge aufträgt.

24
Hey! Wo soll’s denn hingehen?
    In der Wintersonne glänzt ein weißer Pick-up. Er parkt neben dem Rohbau eines Hauses, das auf einem kleinen Hügel über dem Meer entsteht. Das Haus ist ein riesiger Kasten aus Holz, lauter Pfeiler und Erker. Wenn alles fertig ist, wird es auch Gauben, Dachfenster und sogar ein Türmchen haben. Ich stelle mir vor, wie ein reicher Arzt oder ein wohlhabender Anwalt seine Familie hierher zwischen all die Kleinstädter verpflanzen wird, damit sie ihre langen, sonnigen Wochenenden hier verbringen.
    Ich sitze da und warte. Die Autotüren sind verriegelt, als wolle ich mich davor schützen, was als Nächstes kommt. Der Wind treibt den Geruch nach Sägespäne und Salz durch meine undichten Fenster. Ich höre, wie drinnen jemand werkelt. Ein Hammer schlägt im Stakkato. Bumm! Bumm! Bumm! Ich atme tief ein und luge zwischen die Kanthölzer, auf der Suche nach dem Hämmernden. Nichts. Ich klappe die Sonnenblende herunter, um noch einmal schnell in den Spiegel zu schauen. Meine Wangen glühen von der künstlichen Röte. Ich habe das Rouge aufgelegt, als handele es sich um einen Balsam, eine Tarnung, ein Produkt, das mich verwandelt – aber in was?
    Was wünscht sich ein Mann zu sehen, wenn eine Frau auf ihn zukommt und sagt, sie sei seine Tochter? Möchte er jemanden sehen, der ihm ähnelt? Oder möchte er lieber das Kinn und die beeindruckende

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