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Seitensprung ins Glück

Titel: Seitensprung ins Glück Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary E Mitchell
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dass er Tüten packt.«
    »Wird gemacht«, verspreche ich ihr. Doch nachdem ich aufgelegt habe, frage ich mich, wie viel Einfluss ich überhaupt noch auf Mickey habe.
    Er geht nicht ans Telefon, obwohl ich viermal bei ihm anrufe. Der Morgen vergeht, dabei habe ich meine Mission in der Albatross Lane noch vor mir. Es bleibt mir nichts übrig, als unter die Dusche zu springen und hinzufahren. Ich lasse das heiße Wasser lange Zeit über meinen verkaterten Körper laufen. Dann föne ich mein Haar zu einem langen, schimmernden Vorhang in Kastanienbraun – wie in der Shampoowerbung. Ich lege für Daddy Make-up auf und schlüpfe dann in meine Jeans. Sie sitzt immer noch erstaunlich locker. Zufrieden drehe ich mich vor dem Spiegel. Jetzt gilt’s.
    Die Sonne steht bereits hoch am Himmel, und die Morgenluft ist frisch, als ich einmal mehr über die Küstenstraßen fahre, die mir bereits vertraut vorkommen. Als ich heute in der Albatross Lane ankomme, sehe ich zwei Autos in der Sonne glänzen – Peters weißen Pick-up und einen langen roten Chevy Suburban mit goldener Beschriftung auf der Seite. Der Wagen meines Vaters. Das muss er sein. Ich halte hinter ihm.
    Diesmal warte ich nicht. Ich schlage die Tür ein wenig zu laut ins Schloss und stehe dann gut sichtbar vor dem Rohbau. Dann straffe ich die Schultern und marschiere los. Ich halte den Blick auf meine Füße gesenkt, während ich zwischen aufgeschütteter Erde, leeren Getränkedosen und Holzstücken auf dem Weg navigiere. Ich kann das Blut in meiner Stirn pochen spüren, und mein komplettes seitliches Gesichtsfeld scheint ausgeblendet zu sein. Ich höre mich ein-und ausatmen, ein angestrengtes Geräusch, als würde ich keuchen. In Gedanken übe ich: Mein Name ist Roseanna Plow, und ich bin Ihre Tochter. Mein Name ist Roseanna Plow, und …
    »Kann ich Ihnen helfen?«, fragt eine Stimme.
    Ich kenne diese Stimme nicht nur vom Anrufbeantworter. Sie ist mir in den Tiefen meiner zusammengeschweißten Moleküle vertraut. Ich hebe den Blick, und da ist er, er ragt vor mir auf. Er ist groß, oder liegt es an der Höhe des treppenlosen Eingangs, dass er so viel Raum einzunehmen scheint, so viel vom Himmel verdeckt? Mir bleibt die Luft weg. Wie kann jemand, der so lange nicht da war, so viel Raum einnehmen?
    Ich versuche, sein Gesicht durch den Schleier von Tränen zu erkennen, die mir in die Augen steigen. Es ist ein freundliches Gesicht mit ebenmäßigen Zügen, einer ausgeprägten Kieferpartie und ausdrucksvollen Lippen. Mein Gesicht. Niemand könnte das übersehen. Die Ähnlichkeit verschlägt mir die Sprache.
    Ich mache einen Schritt zurück. Er streckt den Arm aus, und ich akzeptiere die dargebotene Hand und erlaube ihm, mir hinauf und über die hohe Türschwelle zu helfen, hinein in das Haus ohne Wände. »Ich bin John Bellusa«, sagt er und betrachtet mich mit meinen eigenen Augen. »Du musst Roseanna sein.«
    Sein wettergegerbtes Gesicht verzieht sich zu einem Lächeln. Er ist wahrhaftig groß, von ihm habe ich meine starken Knochen geerbt, und er überragt mich. Er ist zwar breit gebaut, aber auch ein kleines bisschen gebeugt. Sein Rücken hat einen leichten Buckel, als hätte er in all den Jahren zu viele Kanthölzer getragen. Als hätte er generell zu viel getragen.
    »Also hat Peter erzählt, dass ich komme«, sage ich. Ich ergreife seine Hand und drücke sie. Jetzt hat auch Johnny Bellusa Tränen in den Augen. Er zieht mich an sich und umarmt mich.
    Ich habe tausend Fragen an diesen Mann, der nach Sägespäne und Seife riecht, doch seine Umarmung liefert auch einige Antworten. Ich spüre, dass ich in den Armen eines guten Mannes liege, eines vielleicht nicht perfekten, aber guten Mannes, eines Mannes, der sein eigenes Kind erkennt. Meine Tränen durchnässen sein Cordhemd, und mir wird klar, dass ich mein Make-up umsonst so sorgfältig aufgetragen habe. Als wir uns schließlich loslassen – Johnny sieht ein bisschen verlegen aus und sein Hemd ist voller Wimperntusche –, stelle ich ihm die Frage, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht, seit Helen mir erzählt hat, dass sie eine Tochter namens Alexa hat.
    »Wo ist sie?«
    »Ich weiß es nicht«, sagt er.
    Ich lehne mich gegen eine Wandstütze und japse leise.
    »Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«
    »An dem Tag, bevor sie davongelaufen ist.«
    Ich blicke zu ihm auf. »Dann hast du mich also gesehen? Als Baby?«
    Wieder verzieht sich Johnny Bellusas Gesicht zu einem Lächeln, einem traurigen diesmal. »Ich

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