Seitenwechsel
fügte hinzu: »… wenn du danach gehst. Oder noch schlimmer, fluchtartig die Wohnung verlässt. Und ich möchte mir nicht den schönen Abend verderben.«
Ich nickte. Natürlich. Wir konnten so weitermachen wie jetzt, als gute Kollegen, die hier und da mal etwas zusammen unternahmen, Kino, Essen, Regale aufbauen. Wir konnten weitere unkomplizierte, angenehme Abende miteinander verbringen. Oder wir konnten es noch einmal versuchen. Tatsache war, dass wir nie wieder auf diese unproblematische Stufe zurückkommen würden, wenn ich jetzt noch einmal mit ihm nach Hause ging. Dann ließe sich das nicht wieder mit emotionalen Extremsituationen, zu viel Wein oder harten Kinosesseln entschuldigen. Hatte ich das bedacht, als ich ihn aus einer Laune heraus zum Essen einlud? Natürlich nicht. Ich machte einen Schritt auf ihn zu und nahm seine Hand, während ich nach den richtigen Worten suchte. Was konnte ich ihm versprechen? Mehr als diese Nacht? Regelmäßige Kaffee-und-Co.-Abende in seinem Loft? Eine Beziehung möglicherweise? Nein, sicher nicht, nicht zu diesem Zeitpunkt. Ich konnte nur sagen, wie es war: »Hannes, ich kann dir nicht mehr versprechen, als dass ich nicht vorhabe, heute Nacht wieder wegzulaufen. Aber ich kann verstehen, wenn dir das nicht reicht.«
Es reichte ihm offenbar, denn er zog mich abrupt an sich und gab mir einen langen, intensiven Kuss. Als er mich wieder losließ, lachte ich ihn an: »Wenn du dir natürlich so viel Mühe gibst, bleibe ich vielleicht sogar bis zum Frühstück.«
Der Morgen danach war wichtig. Wichtiger als die Nacht selbst. Am Morgen danach entschied sich in der Regel, ob man jemandem eine Chance gab, ob es was Ernstes werden konnte oder ob es bei der einen Nacht blieb. Es war das Gesamtbild, das einen überzeugen musste. Der zerknitterte Anblick des anderen beim Aufwachen, die Wohnung, der Geruch, die Musik, der Kaffee. Am Morgen danach entschied das Bauchgefühl, ob man sich bei jemandem wohlfühlte, in der Nacht hatte man für solche Feinheiten kein Gespür. Natürlich war es nicht unsere erste Nacht, und natürlich kannte ich auch Hannes’ Wohnung schon in- und auswendig. Ich hatte sie schließlich eingerichtet. Aber es war unser erster gemeinsamer Morgen, und ich entdeckte ein paar Seiten an Hannes, die ihn irgendwie normaler machten, weniger perfekt, und vor allem, weniger Tim-artig. Nicht dass er viel mit Tim gemeinsam hatte, aber ich neigte immer noch dazu, Tim als Maßstab zu nehmen. Hannes war ein Langschläfer, wenn er durfte. Zum Glück. Er schlief sogar länger als ich, was auch seine Nachteile hatte. Tim stand jeden Morgen um sechs auf, egal ob er arbeiten musste oder nicht, und ging erst mal joggen. Ich hasste es, morgens allein aufzuwachen, aber dafür hatte Tim mir regelmäßig frische Brötchen mitgebracht. Nach dem Frühstück suchte ich in Hannes’ Wohnung vergeblich, als ich keine Lust mehr hatte, im Bett zu bleiben und zuzusehen, wie er mir vor meinen Augen den Langschläferrekord wegschnappte. Sein Kühlschrank hatte außer ein paar Resten vom China-Imbiss, Wasser und Milch nichts Essbares zu bieten. Auch das unterschied ihn von Tim, der immer darauf achtete, dass genug Obst, Gemüse und Brot da war, schon allein wegen Kai. Tim war ein Gesundheitsfanatiker, trank kaum Alkohol und achtete fast krankhaft auf seinen Körper, der, wie ich leider zugeben musste, auch nahezu perfekt war. Tim kochte gerne. Hannes war, den Essensresten in seinem Kühlschrank nach zu urteilen, eher ein Fan des Lieferservices, so wie ich. Auch wenn ihm mein Streifzug durch die Küche einige Pluspunkte gegenüber Tim einbrachte, meinem Hunger kam das nicht gerade entgegen.
»Guten Morgen«, grummelte Hannes mir schließlich von der Balustrade der oberen Etage aus zu, nachdem ich mich schon zur Ablenkung von meinem knurrenden Magen durch seine halbe Büchersammlung gelesen hatte. Er wirkte immer noch ziemlich verschlafen. »Tut mir leid, aber an meinem freien Tag muss ich den Schlaf der ganzen Woche nachholen.«
»Kein Problem.«
»Hast du schon gefrühstückt?«
»Ähm, nein? Gibt es denn in diesem Haus irgendwo geheime Essensvorräte?«
»Der Kaffee steht da drüben«, gähnte er, und ich musste lachen.
Aha. Frühstück war bei ihm also gleich Kaffee. Noch ein Punkt, der ihn von Tim unterschied. Bis Tim mir die existentielle Notwendigkeit eines Frühstücks eingetrichtert hatte, konnte ich morgens auch nichts außer Kaffee runterkriegen. Aber nach über vier Jahren hatte
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