Seitenwechsel
Hannes sich in letzter Zeit bei mir rar machte. Lag es an meinem unüberlegten Abschiedskuss letztens, oder war er einfach zu beschäftigt? Wir sahen uns nur noch bei der morgendlichen Sitzung, und auch dann schien er mich kaum wahrzunehmen. Meine Artikel redigierte er wie üblich auf dem Server und schickte dann eine kurze Mail, und wenn es doch einmal etwas zu besprechen gab, dann hielt er sich so knapp, dass er meistens schon wieder verschwunden war, bevor ich seine Anmerkungen verstanden hatte.
Eigentlich hätte ich froh sein müssen, dass die Arbeit mit ihm so unproblematisch verlief, aber komischerweise wurmte es mich, dass er noch nicht einmal zum Gratulieren vorbeikam. Er war auf jeden Fall da, das konnte ich durch die Lamellen vor seinem Büro sehen. Ich schüttelte über mich selbst den Kopf. Mein Gott, was wollte ich eigentlich? Schließlich hatte ich ihn zurückgestoßen, nicht er mich. Hannes war nett, ja, aber nur weil ich plötzlich wieder Single und völlig unerwartet ein Jahr älter geworden war, musste ich ja nicht gleich mit dem erstbesten Mann anbandeln, der sympathisch war und drei Schreibtische weiter saß. Hannes war schließlich auch etwas merkwürdig! Ein Filmfreak, ein Workaholic und mein Chef. Das Beste war wirklich, den Kontakt auf das absolut notwendige Maß zurückzuschrauben und mich auf die Arbeit zu konzentrieren. Ich brauchte schließlich keinen Mann, um glücklich zu sein. Ich war alt genug, ich konnte sehr gut alleine sein und meine Freiheit genießen.
Bestärkt durch diese neue Selbsterkenntnis wandte ich mich von Hannes’ Büro ab, fuhr meinen Computer hoch und zog auf der Suche nach meinen Notizen die Schreibtischschublade auf, als mich ein Krokodil anstarrte. Kein echtes natürlich, sondern in Form einer Nackenrolle mit langer Schnauze, vier Beinen und einem Schwanz, in das ich mich auf Anhieb bei unserem Einkaufsbummel verguckt hatte. Lächelnd zog ich das Krokodil, das so groß war, dass es die komplette Schublade ausfüllte, hervor. Hannes hatte es sich also gemerkt.
Eine Minute später hatte ich meine frisch gewonnenen Einsichten über Bord geworfen und stürmte ohne Voranmeldung in sein Büro.
»Frau Schneider, gibt es etwas Dringendes?«, fragte er, ohne von dem Computer aufzublicken, in den er in einem unglaublichen Tempo etwas hineinklimperte.
»Sie meinen, außer, dass sich neuerdings Reptilien in meinem Schreibtisch aufhalten?«
Jetzt schaute Hannes doch vom Computer auf. »Ist das so? Na, dann wäre der Aufmacher für morgen ja geklärt.«
Wir lachten beide gezwungen, dann fügte er hinzu: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag.«
»Danke. Auch für das Krokodil.«
Er nickte und wandte sich wieder dem Computer zu. Ich atmete lautstark ein, so dass er gezwungen war, noch mal aufzublicken.
»Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?«
»Ja«, erwiderte ich und nahm meinen ganzen Mut zusammen. »Sie können mit mir essen gehen. Heute Abend, halb neun, im ’Zeit der Kirschen’. Ist gleich bei Ihnen um die Ecke. Ich lade Sie ein.«
Hannes sah mich verblüfft an. Aber bevor er antworten konnte, verließ ich sein Büro und verschanzte mich schnell hinter meinem Schreibtisch. Ich ließ Hannes den Rest des Tages keine Gelegenheit mehr, alleine mit mir zu reden. Ich wollte seine Antwort erst heute Abend herausfinden.
Morgenzauber
Es war ein angenehmer Sommerabend. Warm, aber nicht stickig. Die Stadt wirkte leer. Die Bedienung im »Zeit der Kirschen« begrüßte mich freundlich, als würde sie mich kennen. Dabei ging ich nur zu besonderen Anlässen hier hin, und die waren in letzter Zeit rar gesät. Ich suchte mir einen Tisch im hintersten Teil der Laube, von wo ich den kompletten Außenbereich überblicken konnte. Ab und zu ratterte eine Bahn über die nahegelegenen Eisenbahnschienen, aber ansonsten war es ungewöhnlich ruhig, dafür, dass ich mich auf einem Ehrenfelder Hinterhof befand. Mit etwas Phantasie hätte ich mich auch in einen Urlaubsort, irgendwo an der spanischen oder südfranzösischen Küste, wegträumen können. Zumindest lud der große Olivenbaum neben mir zu solchen Träumereien ein. Ich schaute gelegentlich zur Hintertür, durch die Hannes zwangsläufig kommen musste. Wenn er kam. Ob er kam oder nicht, war mir in diesem Moment eigentlich egal. Ich hatte mir einen Viertelliter erstklassigen Rotwein bestellt und genoss zum ersten Mal an diesem Tag meinen Geburtstag. Selbst wenn Hannes nicht käme, würde ich mir ein ausgiebiges Menü gönnen
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