Seitenwechsel
hatte unsere Affäre vielleicht angeleiert und mich immer wieder mit ausgeklügelten Attacken zur Aufgabe meiner guten Vorsätze gezwungen. Und natürlich hatte ich Hannes auch ab und zu ein paar wichtige Informationen vorenthalten. Aber diese Lüge hatte ich ganz alleine und völlig ohne Zwang begangen und damit Level zwei erreicht.
Grenzen
Ich selbst hatte Fahrrad fahren mit fünf ohne Helm, ohne Stützräder und ohne das Wissen meiner Eltern im Hof unserer Nachbarn gelernt und war anschließend mit blutroten Knien und Ellenbogen, aber stolzen Hauptes nach Hause gekommen. Für Kai hätte ich am liebsten eine komplette Ritterrüstung aus Hand-, Knie-, Ellenbogen-, Arm-, Schienbeinschonern und Helm gekauft. Es war wieder einer dieser Momente, in denen ich mich fragte, wie meine Eltern mich als Kind eigentlich überlebt hatten. Ich bekam schon einen Schock, wenn Kai die Schaukel auf dem Spielplatz fast zum Überschlag brachte, um dann auf dem höchsten Punkt abzuspringen und grinsend mit einem halben Bauchklatscher im Sand zu landen. Aber jedes Mal, wenn ich meiner Mutter mit Kai einen Besuch abstattete und den kleinen Wirbelwind zurückpfeifen wollte, kam sie mit dem typischen: »Lass ihn doch, du warst damals noch wilder«, und untermalte es mit einem haarsträubenden Beispiel meiner kindlichen Sorglosigkeit. Und jedes Mal entgegnete ich, dass ich nicht unbedingt ein gutes Beispiel gewesen wäre und sie vielleicht auch nicht die beste Mutter, wenn man bedachte, dass ich mir als Kind auch mindestens zwei Finger, das Schlüsselbein und den rechten, oder war es der linke, Arm gebrochen hatte, wenn auch nicht alles auf einmal. Kinder müssten ihre Grenzen selbst kennenlernen, zitierte sie dann irgendeinen 68er-Erziehungsratgeber und ich erwiderte, dass manche Kinder sie aber auch nie kennenlernten, und dann verwies sie mich wieder auf mich selbst und beendete das Gespräch mit einem vieldeutigen »ganz genau«. Manche Leute würden denselben Fehler eben wieder und wieder machen, aber da könnte man dann auch mit Erziehung nichts mehr ausrichten. Und spätestens da wusste ich meistens nicht mehr, ob wir noch über Kindererziehung oder mich und mein verpfuschtes Liebesleben sprachen, und zog es vor zu schweigen. Meine Mutter konnte schließlich unmöglich wissen, dass ich mal wieder dabei war, eine Beziehung mit einem längst ausgemerzt geglaubten Wiederholungsfehler aufs Spiel zu setzen. Und außerdem, wenn hier jemand für mein missratenes Sozialverhalten verantwortlich war, dann doch wohl sie. Aber das hätte unweigerlich eine Grundsatzdiskussion herbeigeführt, die ich nicht vor Kai und auch nicht mit meiner Mutter führen wollte. Dabei konnte ich nur verlieren.
Natürlich musste Kai seine Grenzen selbst kennenlernen, aber es schadete sicher nicht, diese Grenzen ein wenig auszupolstern. Dementsprechend hielt ich mich in dem Fahrradfachgeschäft auch hauptsächlich in der Schutzkleidungsabteilung auf, anstatt Tim bei der Auswahl des eigentlichen Geschenks zu helfen. Kai hatte sich zu seinem vierten Geburtstag ein Fahrrad gewünscht. Und als ich erst nein, dann ja, »aber mit Stützrädern« und schließlich »meinetwegen, aber nur mit Helm« gesagt hatte, hatte Tim das zum Anlass genommen, mich zum gemeinsamen Einkauf zu verpflichten. Und das bestimmt nicht nur, weil er Kais Kopfumfang nicht auswendig kannte.
Am Ende lagen drei Helme in unserem Einkaufswagen. Einer für Kai, einer für Tim und einer für mich. »Eltern sind Vorbilder!«, hatte Tim nur gegrinst und mir damit erneut unter die Nase gerieben, dass ich eine weitere Grenze überschritten hatte. Und zwar die »Jetzt zeige ich allen Leuten, dass ich Mutter und daher eine vorbildliche Straßenverkehrsteilnehmerin bin«-Grenze in meiner ganz privaten Altersklasseneinteilung. Es gab darin verschiedene Ereignisse, die in meinen Augen unumkehrbar eine neue Phase im Leben einleiteten, ob man wollte oder nicht. Und damit meinte ich nicht die offensichtlichen, wie erste Wohnung, erster Job, erstes Kind. Es waren mehr die kleinen Dinge, die einem auch erst rückblickend bewusst wurden. Zum Beispiel der Tag, an dem man zum ersten Mal in seiner Stammkneipe vom neuen Studentenpersonal gesiezt wurde. Oder der Tag, an dem man samstagsabends »Wetten, dass..?« einschaltete, anstatt dieselben zwei Stunden plus Überziehung vorm Spiegel zu stehen, um das geeignete Ausgeh-Outfit zu finden. Der Tag, an dem man keine Zeit mehr dafür hatte, sich bei H&M in die Schlange vor
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