Sekunde der Wahrheit
eine wahre Geschichte erzählen, Molly. Da war einmal ein Junge, der Jockey werden wollte. Während seiner ganzen Kindheit war seine einzige Sorge, nicht zu wachsen, damit er Jockey werden konnte. Und er hat sich angestrengt und die Ochsentour angetreten, ist auf jedem Buschrennen und bei jedem Jahrmarkt geritten. Und was passiert? Seine Drüsen spielen ihm einen Streich, seine verdammte Schilddrüse, und er wird immer fetter. Er nimmt Pillen zum Entwässern und zum Appetitzügeln, und was passiert? Er wird noch fetter. Also was macht er? Er hängt sich an die Flasche und wird ein verdammter Saufkopf! Sinkt immer tiefer, kommt aufs Abstellgleis. Und da kommt ein Kerl daher, der auch säuft, und was passiert? Der macht ihm klar, was er mit sich anstellt – daß er vor Selbstmitleid zerfließt und alles auf andere und die böse Welt schiebt. Er zitiert ihm Shakespeare. Und was passiert? Der traurige Ex-Jockey entdeckt, daß er in all seinem Fettwanst ein Rückgrat hat. Der andere Kerl zeigt ihm, wie man es sich steift. Und was passiert? Er reitet zwar nicht mehr, aber er wird Hilfstrainer, und das bei einem Derbypferd.«
Bernie stand auf. »Hör also mit dem Selbstmitleid auf und hör damit auf, ein Pferd zu hassen, das nur Angst hatte und aus Versehen über dich weggetrampelt ist. Es hat nicht gewußt, was es tut, es hat es nicht absichtlich getan! Du hast versucht, ihm zu helfen, und das Tier hat in Panik reagiert. Du weißt doch, daß Pferde unberechenbar werden, wenn sie scheuen. Sie sind nicht normal, so wie du auch jetzt nicht normal bist. Aber du kannst es ändern. Ich habe mich in ein Mädchen verliebt, und das Mädchen wurde verletzt, wie ich auch verletzt wurde. Und jetzt dreht es mir den Rücken zu, und das schmeckt mir nicht!«
Ein langes Schweigen. Ihr Kopf war in den Nacken gelegt, und sie starrte ihn aus ihren dunklen Augen an. Sie waren feucht.
Und schließlich, während er mit angehaltenem Atem wartete, sagte sie mit schüchterner Stimme: »Bernie …«
»Ja?«
»Hast du verliebt gesagt?«
Den bitteren Geschmack hatte er noch immer im Mund, als wäre sein ganzer Körper von dem Hass auf seinen Bruder vergiftet. Clay hatte nicht mehr die geringsten Zweifel, daß Owen alles zuzutrauen war, womit er gedroht hatte. Zorn und ohnmächtige Wut, die sich wie ein Messer in seine Eingeweide bohrten, machten Clay derart zu schaffen, daß er sich nicht mehr sicher war, ob er nicht unkontrolliert und im falschen Augenblick explodieren würde. Er war nicht mehr der Clay, der erst vor ein paar Tagen nach Louisville gekommen war. Etwas in ihm hatte sich verändert – durch Owen.
Er war zu dem Herrenhaus mit den weißen Säulen im Süden der Stadt gefahren. Eine Reaktion auf sein Klingeln, sein Klopfen und sein Hämmern war unterblieben. Mrs. Rosser war vielleicht drinnen, aber möglicherweise zu betrunken gewesen, um etwas wahrzunehmen. Sogar Owen konnte zu Hause sein, hatte aber keine Lust, seinem Bruder entgegenzutreten. Nicht aus Angst, nicht Owen! Aber er wollte vielleicht sein Spiel auf seine Weise vorantreiben. Er mußte allerdings wissen, daß ihm früher oder später eine Konfrontation mit Clay nicht erspart blieb. Nun, der Zeitpunkt war jetzt gekommen.
Eric Millar hatte sich nicht in seinem Wohnwagen befunden. Clay nahm sich nicht einmal die Zeit, in der Derbystallung nach Hotspur und Elijah zu schauen. Als er sich bei einem Wächter erkundigte, wo Mr. Chalmers sein mochte – allmählich hasste er sogar seinen eigenen Namen –, wurde ihm bedeutet, daß er noch vor ein paar Minuten dagewesen und vielleicht in die Kantine gegangen sei oder bei den Rennen zusah. Die Nachmittagsrennen hatten begonnen, was Clay fast vergessen hatte. Owen befand sich allerdings nicht am Geländer der Gegengeraden oder auf der Tribüne. Also machte Clay sich auf den Weg zur Kantine.
Seit seinem Gespräch mit Andrew Cameron und Blake Raynolds war er sich nicht recht im klaren gewesen, was er eigentlich zu Owen sagen wollte. Hatte er irgendein Druckmittel? Dem Bastard mußte Paroli geboten werden – aber wie?
Erst als er die Kantinentür öffnete, kam ihm ein Gedanke, eigentlich war es nur ein vager Verdacht, und es war nicht sicher, ob er damit ins Schwarze treffen würde. Doch wenn … konnte sich dies als Trumpfkarte erweisen, die einzige, die er in der Hand halten würde.
Die Kantine war fast leer, aber Owen saß da, allein an einem Tisch, vor sich die ›Racingform‹ und eine Tasse Kaffee. Als Clay ihn da
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