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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hayes Joseph
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preschte vorbei und stieß aus den Nüstern kleine Dampfwölkchen aus; der tief über den Hals gebeugte Reiter ermunterte sie mit Schnalzen und Worten. Die vorwärtsdrängende, explodierende Kraft der Vollblüter faszinierte Clay stets aufs neue. Gab es einen schöneren Anblick?
    Selbst jetzt, als Hotspur mit Zach herankam, konnte er sich von dem Bild noch nicht losreißen. Der Rappe schaute neugierig nach links und rechts, hob den Kopf und reckte dann den Hals nach unten. Er schnaubte Clay freundlich an, und man merkte ihm an, daß es ihm nicht paßte, trockengeritten zu werden – er wollte lieber weiter rennen.
    Auf der Bahn kam jetzt ein großrahmiger Dunkelbrauner heran, den Kopf hoch erhoben, an den Flanken leicht schwitzend, von offensichtlich königlichem Geblüt: Ancient Mariner, einer der Favoriten.
    »Ich stoppte für 1.400 Meter 1:22 und ein paar Zehntel«, sagte jemand hinter Clay. »Gute 1:37 für die Meile.«
    Clay drehte sich um. Er hatte etwas dagegen, wenn andere Leute die Zeiten seines Pferdes kontrollierten. »Falls es Sie was angeht 1:36 und ein paar Zerquetschte.«
    Wegen des rotblonden Vollbarts war nicht viel zu sehen vom Gesicht des hochgewachsenen Fremden, der mit einem Lachen sagte: »Du kennst anscheinend deinen großen Bruder nach all den Jahren nicht mehr wieder?«
    In dem Moment kam er Clay bekannt vor, das breite, ansteckende und etwas mokierende Lachen.
    Fast automatisch ergriff er die ausgestreckte Hand – breit, ledrig und kräftig. Die blauen Augen betrachteten ihn prüfend. Aber Clay sagte nichts, weil er nichts empfand. Sollte er aus Höflichkeit behaupten, er freue sich? Da war er sich nämlich gar nicht sicher. Sein Bruder schob den Westernhut in den Nacken, zog die buschigen, rötlichen Brauen hoch und sprach mit dem freundlichen, etwas neckenden Tonfall, an den sich Clay plötzlich ganz deutlich erinnerte: »Hab' ihn mir erst jetzt richtig ansehen können. Und du meinst wirklich, dein kleines Schaukelpferd bringt den Zaster und kommt ins große Geld? Das Rennen geht über 2.000 Meter, kleiner Bruder. Anscheinend hast du noch immer dicke Rosinen im Kopf.«
    »An Rosinen hat es dir auch nie gefehlt«, meinte Clay, und Owen warf den Kopf mit einem lauten Auflachen in den Nacken.
    An der Trainingsbahn herrschte ein reges Kommen und Gehen, Pferde, Trainer, Jockeys, Stallburschen, Agenten, Eigner und wer sich sonst noch Zutritt zum Gelände an der Gegengeraden verschaffen konnte – es war ein lässiges und selbstgenügsames Treiben. Während sich die Einheimischen noch einmal auf die andere Seite drehten, hatte hier der Arbeitstag schon begonnen.
    Schaukelpferd, ein Erinnerungsfetzen aus der Kindheit, ein Lieblingsausdruck seines Vaters. Ebenso wie Zaster und Rosinen. »Hotspur hat es noch nicht versucht, Owen«, sagte Clay. »Das gebe ich zu. Aber deshalb sind wir ja hier.«
    Owen steckte die Stoppuhr in eine Tasche seiner Lederweste. »Weißt du, wie viele Rappen bisher erst das Derby gewonnen haben?«
    »Vier«, erwiderte Clay prompt, »bis jetzt.« Dann trat er vom Gatter zurück und blinzelte nach oben. Inzwischen war der Himmel hell, aber wolkenlos. Für den Nachmittag waren Schauer vorhergesagt. »Und es hat außerdem erst zweimal am Derbytag geregnet.«
    Wieder lachte Owen. »Du hast dich kein bißchen geändert. Voll von Fakten und Zahlen, als würde das was helfen.« Er legte den Arm um Clays Schultern und packte seinen Oberarm mit einem stählernen Griff. »Haste wohl nötig, weil dein Galopper ein Schmuddler ist.«
    Schmuddler – wieder ein typischer Ausdruck von Toby für ein Pferd, das ein weiches Geläuf bevorzugt. Während Clay vergebens versuchte, sich ein paar persönliche Fragen an Owen auszudenken, merkte er, wie dieser ihn mit mächtigen Schritten in die Richtung der Stallungen dirigierte, wo er überhaupt nicht hinwollte.
    »Mein Boss«, erklärte Owen, »war so ähnlich wie du. Hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß Fireaway das Derby in der Tasche hätte, nur weil er im San Vincente Stakes und im California Derby gewonnen hat.« Der Griff wurde noch fester. »Du hast wohl gehört, was passiert ist?«
    »Ja, im Rundfunk auf dem Weg hierher«, antwortete Clay. Herzversagen … im Privatflugzeug … seit langem herzkrank … 63 Jahre alt … Tod bei der Landung auf einem Flughafen irgendwo im Westen festgestellt.
    »Die Aufregung war zu viel für ihn«, sagte Owen. »Aber er war ein sturer Bock, das mußte man ihm lassen. Hatte Mumm. Mußte

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