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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hayes Joseph
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mitkommen. Hat weder auf seinen Arzt gehört, noch auf seine Frau oder mich.« Er ließ den Arm von Clays Schulter sinken und schüttelte den Kopf. »Wollte unbedingt beim Sieg von Fireaway dabeisein. Jetzt wird der arme Kerl es zwar nicht mehr erleben, aber seinen letzten Wunsch bekommt er erfüllt, Clay.«
    Stirnrunzelnd betrachtete Clay seinen im wahrsten Sinn größeren Bruder, der mit einem Taschentuch das Schweißband seines Huts abwischte. Hatte Owen sich verändert? Nein, eine gewisse familiäre Loyalität hatte er immer bewiesen. Auch Toby gegenüber, trotz allem.
    Zwischen den Heuballen roch es nach Pferdeschweiß, Stroh und Hafer, nach Pferdeäpfeln und Salben. Ein Tierarzt feilte die Zähne eines Pferdes ab, während der Stallbursche die Oberlippe mit einer Wasenbremse festhielt.
    Auf der anderen Seite war Owen aber auch zu hinterlistigen Grausamkeiten und vorsätzlichen Racheakten aufgrund manchmal nur eingebildeter Beleidigungen fähig, ebenso zu Jähzorn und Brutalität. Aber Clay wollte sich darüber nicht mehr weiter den Kopfzerbrechen – schließlich hatten sich ihre Wege vor Jahren getrennt, und es war sein Entschluß gewesen. Doch nun mit Owen neben sich spürte er wieder den längst vergessen geglaubten ohnmächtigen Ärger, der alle Glieder bleiern werden ließ. Wo zum Teufel war die Hochstimmung von vorhin geblieben, die Freude am Turf und am Leben?
    »Du hast dich nicht einmal nach Toby erkundigt«, sagte Owen.
    Das stimmte. Also holte Clay es jetzt nach, wenn auch zögernd.
    Owen blieb unvermittelt stehen und drehte sich zu Clay. In seinen blauen Augen war Feindseligkeit zu lesen. »Du hasst den armen alten Kerl wohl immer noch?«
    »Ich glaube nicht«, entgegnete Clay begütigend, »daß ich ihn jemals gehasst habe, Owen.« So sicher war er sich da allerdings nicht. Hatte er jemals darüber nachgedacht?
    »Quatsch. Na, eines kann ich dir verklickern, Junge – er hat sehr an dir gehangen.«
    Fast wäre Clay entschlüpft, daß seine Weise, das zu zeigen, sehr merkwürdig gewesen war. Aber auch das wäre nicht die ganze Wahrheit gewesen. Was war denn wahr? »Wo ist er, Owen?«
    Owen stand breitbeinig da, und sein Ton war ebenso hart wie sein Blick:
    »Er ist tot.«
    Wieder schwieg Clay, seiner Gefühle unsicher. An seinem inneren Auge zogen staubige Landstraßen und öffentliche Duschen und stinkende Latrinen und tausend baufällige Scheunen und ungepflegte Rennbahnen und armselige Jahrmärkte vorbei, rostige Lastwagen mit spuckenden Motoren und einem klapprigen Pferdehänger. Er mußte an verschlafene Dörfer denken, in denen er sehnsüchtig die erleuchteten Fenster betrachtet hatte, mit zufriedenen Menschen dahinter, am Fernseher, Familien …
    »Dir ist auch egal, wie er umgekommen ist?« fragte Owen knurrend und unwillig.
    »Wie?« erkundigte sich Clay und dachte an Toby mit den Apfelbacken, der mal nüchtern, mal betrunken war. Nüchtern: ›Ich kann dich nicht anschauen, Clay. Du erinnerst mich so an sie.‹ Unstillbarer Kummer sprach dabei aus Tobys sanften Augen. »Wie ist er gestorben?«
    »Du weißt, wie gern der alte Mann Spielchen mochte. Auf alles, was sich bewegte, Traber, Windhunde und Hähne hat er gewettet.«
    »Wann und wie?«
    »Vor zehn, elf Jahren. Ein paar Hinterwäldler behaupteten, er würde beim Pokern falsch spielen.« Der alte Zorn kam in Owen hoch: »Haben ihn zu Mus geschlagen und in ein Maisfeld geworfen. Bei zwei Grad unter Null und Eisregen. Haben ihn einfach liegenlassen. Er war fast zugefroren, als ich ihn fand. Der Leichenbeschauer sagte, eine Rippe wäre in die Lunge gedrungen.«
    Clay schluckte. Toby war in betrunkenem Zustand, mit rotunterlaufenen, wilden Augen ein anderer: ›Du feiger kleiner Bastard bist daran schuld. Ohne dich wäre Emma noch am Leben. Wenn ich dich sehe, muß ich daran denken. Owen, hol mir mal die Peitsche …‹
    Unfair und ungerecht! Der alte Widerstreit der Gefühle machte Clay erneut schwer zu schaffen. Mit weichen Knien ging er um Owen herum und wollte weg. Die Vergangenheit war tot, und Toby auch.
    »Die beiden haben ihr Fett gekriegt – die beiden Scheißer. Die schlagen niemand mehr kaputt. Dafür hat dein großer Bruder gesorgt!«
    Es reichte! Vor Jahren, vor achtzehn Jahren, als die Empörung und Verwirrung und Wut nicht mehr zu ertragen waren, hatte er seine wenigen Habseligkeiten – darunter die abgegriffene Shakespeare-Ausgabe seiner Mutter – zusammengepackt und war auf einen Güterzug in Richtung Minnesota

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