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Sekunde der Wahrheit

Titel: Sekunde der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hayes Joseph
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fanden. Clay war da anderer Meinung. Herzhaft essen und dann den Finger in den Hals stecken und sich erbrechen, nur um das Gewicht zu halten, empfand Clay als traurig. Für die Betroffenen. Besonders für einen Jockey wie Zach, den er so schätzte. Daran änderte auch das fröhliche Stimmengewirr nichts.
    Clay aß mit Vergnügen ein Steak mit Bratkartoffeln, zu dem er eine Tasse pechschwarzen Kaffee trank. Als Clay sein Mahl beendet hatte und aufstand, wich Owen nicht von seiner Seite.
    »Komm, jetzt genehmigen wir uns den Drink.«
    »Ich trinke nicht«, sagte Clay.
    »Ehrlich? Seit wann?«
    Seit sieben Jahren. Er sagte es nicht. Seitdem ihm der Film gerissen war und Jason Arnold im Schnee Lord Randolph hatte den Fangschuss geben müssen: ›Keine andere Wahl, Junge. Das Sprungbein ist gebrochen.‹ Mit Schmerz in der Stimme, in den Augen. Einem Vorwurf? Wieder die Vergangenheit.
    »Jeder trinkt«, erklärte Owen und riß ihn am Arm zu sich herum, so daß sie einander gegenüber standen. Owen hakte die Daumen in seinen breiten Gürtel und schaute Clay provozierend an. Die Zigarre wackelte im Mund, als er sagte: »Hör mir mal zu, kleiner Bruder. Niemand schlägt Owen Chalmers einen Drink ab. Zweimal.« Er grinste und wiederholte freundlich: »Niemand.«
    Clay merkte, wie sich sein ganzer Körper spannte und sein Herz raste. Trotzdem antwortete er mit mildem Spott: »Was sonst, Owen? Willst du mir noch einmal die Nase brechen? Dann mach's bitte mit der Linken, damit sie wieder gerade wird.«
    Owen schaute amüsiert. »Nein, Sir, du hast dich keinen Deut geändert.«
    »Ich habe mich geändert«, behauptete Clay, wobei er sich allerdings fragte, ob das wirklich zutraf.
    »Soll das heißen, daß du diesmal nicht hinter die nächste Scheunenecke kotzt, wenn wir uns vertrimmen?«
    »Wahrscheinlich doch«, antwortete Clay, denn Gewalttätigkeit drehte ihm unweigerlich den Magen um. Einst hatte er das für eine Schwäche gehalten. Dann fuhr er fort: »Wir werden uns aber nicht prügeln, erstens, weil wir keinen Grund haben, zweitens, weil die Rennbahnpolizei uns im Handumdrehen beim Schlafittchen packen und vom Start sperren würde.« Und er fügte hinzu, weil er nicht anders konnte: »Wann wirst du endlich erwachsen, Owen?«
    Den Bruchteil einer Sekunde lang erwartete Clay einen Schwinger und spannte instinktiv sämtliche Muskeln an. Aber Owen runzelte die Stirn und knurrte: »Wollte nur sehen, ob du seit dem letzten Mal Mumm gekriegt hast.« Damit drehte er sich um und marschierte auf den Parkplatz zu, ein großer und breitschultriger Mann, den die hohen Stiefelabsätze noch größer wirken ließen. Sein Gang war etwas angeberisch breitbeinig, wie man ihn ansonsten mehr bei kleineren Männern beobachten kann.
    Plötzlich tat Clay sein Bruder leid. Warum? Er wußte es nicht. Aber schon als Junge hatte er widersprüchliche Empfindungen gehabt: Mitleid in Momenten heftigsten Hasses. Wütend über sich selbst machte er sich auf den Weg zu Hotspurs Stallbox. Er hatte noch einiges zu erledigen! Aber trotzdem schoß ihm eine Erinnerung durch den Kopf: ›Hab nie mit jemand Mitleid. Glaub dem alten Toby. Sonst wirst du aufs Kreuz gelegt. Deine Mutter hat das nie geglaubt. Sie hat gesagt, wenn sie so denkt, ist das Leben nichts mehr wert.‹
    In dem Augenblick ging die Sonne auf. Sie tauchte die Stallungen, das taunasse Gras und das Fell der vorbeitänzelnden Pferde in einen blaßgoldenen Schein.
    Was für ein prachtvoller Hengst. Bei der Geburt kohlrabenschwarz und nun taubengrau, und das Fell, das würde mit zunehmendem Alter bestimmt noch einen Ton heller werden. Irish Thrall – kein irischer Sklave, sondern eher der Sage entsprungen, den Mythen von Brigid Tyrones Kindheit. Sie schaute Kevin, einem sommersprossigen Jungen, zu, der das Pferd aus der Box holte. Die Wachen an beiden Stallausgängen würdigten den Vollblüter mit seinem schmalen Kopf und geschwungenen Hals keines Blicks. Ihr fielen wieder Daniels Worte ein: ›Wie beim Menschen ist es auch beim Pferd der Geist, der die Qualität ausmacht.‹
    Sie nahm Kevin die Zügel aus der Hand und bemerkte, daß das sonst so fröhliche Gesicht des Jungen lang und betrübt wirkte. Ihr fiel ein, daß Molly sie gebeten hatte, Kevin mit nach Amerika zu nehmen. Ein Abenteuer, in das sie sich als Herrin über Innisfree Demesme gestürzt hatte, als Züchterin mit einer Aufgabe, die sie erfüllte. Sie holte aus der Capetasche Zucker und reichte ihn Irish Thrall auf der flachen Hand.

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