Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
brüllte er sie an.
»Was hat er getan?« Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen sicheren Klang zu geben.
»Das weißt du genau!«
Sie wartete einen Moment, bevor sie antwortete. Seine Augen wanderten hin und her, suchten in ihrem Gesicht eine Reaktion. Doch genau die wollte sie ihm nicht zeigen. Sie musste klug sein, sein Spiel verstehen und ihn austricksen. Sie konnte das, redete sie sich selbst Mut zu. Sie wusste mit unkontrollierbaren Menschen umzugehen. Sie würde es können. So wie sie es schon bei ihrem Vater geschafft hatte. Sie hatte damals die Schläge überstanden, die Demütigungen, die Angst. Und sie würde es wieder schaffen.
»Ich weiß es nicht. Doch was immer es ist, kann so schlimm nicht sein. Gib mir bitte meine Kleidung und erzähl mir, was er getan hat.«
»Und dann wirst du ihn bestrafen«, keifte er. »Bestrafe deinen Sohn, er hat es verdient. Du musst ihn schlagen, ihm den Mund auswaschen, ihn mit Scheuerpulver überschütten und das Schlechte von ihm herunterwaschen. Er ist ein Nichtsnutz. Er wird es nie zu etwas bringen. Er kostet Geld, Geld, Geld und zerstört. Mehr kann er nicht. Er ist nichts als Ballast, eine Plage.«
Kerstin entschied sich, ihrer Intuition zu folgen.
»Meine Kleidung«, forderte sie ruhig.
Er sah zwischen dem Bügel und ihr hin und her, machte ein paar Schritte und gab ihr Rock und Bluse. »Und jetzt sag mir, wie du ihn bestrafen wirst. Los!«
Sein Gesicht hatte sich zu einer irren Fratze verzogen. Er schien völlig entrückt. Langsam stieg sie in den Rock, zog den seitlichen Reißverschluss hoch und nahm sich dann mit einer langsamen Bewegung die Bluse.
»Würdest du bitte die drei Knöpfe hinten schließen?«, fragte sie und wandte ihm wie selbstverständlich den Rücken zu. Sie hoffte inständig, dass ihre Schultern gehorchten und nicht das innere Beben, das in ihr tobte, nach außen brachten.
Er raufte sich die Haare, schien nicht zu wissen, wie er darauf reagieren sollte. Schließlich folgte er ihrer Bitte und schloss rasch die Knöpfe. Die Bluse spannte ein wenig über ihrem immer größer werdenden Bauch. Was würde er tun, wenn ihr das Kleidungsstück bald nicht mehr passte oder der Stoff vielleicht sogar riss? Sie zwang sich zur Ruhe und atmete tief durch. Es kostete sie Überwindung, sich ihm wieder zuzudrehen. Zögerlich berührte sie seinen Arm und hakte sich dann bei ihm ein.
»Bitte erzähl mir in aller Ruhe, was mein Junge gemacht hat. Dann werden wir gemeinsam besprechen, was wir unternehmen.«
Er zuckte zusammen, sah ungläubig auf ihre Hand, die locker in seiner Armbeuge lag. Ganz nah war sie, er spürte ihren Atem. Was tat sie da? Was? Er wollte sie wegstoßen, sie schlagen, peitschen. Sie sollte spüren, wozu er fähig war. Doch dieser sanfte Blick. Konnten Mütter so sein?
Sie machte einen Schritt nach vorn. »Kommst du? Ich möchte hören, was mein Junge getan hat. Hilfst du mir, mit ihm zu sprechen?«
Wie von selbst setzte er sich in Bewegung und ließ sich von ihr führen, verwirrt und doch voller Hoffnung zugleich.
x x x
Den ganzen Abend hatte Falko gelauert. Auf eine Bemerkung, eine Floskel oder Unbedachtheit, aus der er Heike einen Strick hätte drehen können. Er wollte seine Frau auf ihre Lüge ansprechen und hatte auf den richtigen Moment gewartet. Irgendetwas, das sie sagte oder tat, das ihm einen Anlass gegeben hätte. Doch es war nichts passiert. So hatten sie das Essen hinter sich gebracht, ohne dass es zu einer Aussprache gekommen wäre. Falko war sich dumm und grotesk vorgekommen, sich in seiner eigenen Ehe eine Gesprächstaktik zurechtzulegen, doch er konnte nicht über seinen Schatten springen. Zu tief hatte sich der Stachel der Lüge in seinen Körper gebohrt. Es war nicht bei der einen Flasche Wein geblieben, auch die zweite hatten sie über die Hälfte geleert. Danach hatten sie nur noch kurz den Tisch abgeräumt und waren gleich ins Bett gegangen. Die lauernde Spannung entlud sich in wildem, zügellosem Sex – das Einzige, das Falko für diesen Abend mit Sicherheit ausgeschlossen hätte. Er ärgerte sich über seine eigene Schwäche. Als er auf ihr lag und sich tief in ihren Körper senkte, bat er sie, ihn nicht zu verlassen. Ihre Blicke trafen sich, »Unsinn«, stöhnte sie nur. In diesem Augenblick hatten beide gewusst, dass es eine Lüge gewesen war und der andere es spürte. Falko brachte den Akt mit heftigen, groben Stößen zum Höhepunkt, rollte sich sofort von ihr herunter und drehte sich auf die Seite.
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