Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
Heike hatte sich an seinen Rücken gekuschelt, schien nicht bemerken zu wollen, was in ihm vorging. Schließlich spürte er, wie ihr Atem gleichmäßiger wurde und sie wenige Augenblicke später einschlief. Er hatte sich aus ihrer Umarmung befreit, war aufgestanden, hatte die Bücher Rebecca Ganters genommen, die neben seinem Bett gelegen hatten, war ins Wohnzimmer gegangen und hatte sich auf die Couch gelegt.
Jetzt nahm er das erste Buch zur Hand und begann zu lesen. Es hatte gedauert, bis er in der Lage war, sich ganz auf die Handlung zu konzentrieren, die Sorgen um seine Ehe ließen seine Gedanken immer wieder abschweifen. Doch je tiefer er nun in den Roman eintauchte, desto mehr faszinierte ihn die Geschichte. Rebecca Ganter hatte es verstanden, den Leser ganz und gar gefangen zu nehmen.
Es ging um eine Mordserie an jungen Männern. Alle waren etwa um die dreißig Jahre alt und Pfleger von Beruf. Durch den Verwesungsgeruch waren Anwohner in der Nähe einer Baustelle auf einen Container aufmerksam geworden, in dem die Polizei schließlich den grausigen Fund machte: sieben Leichen in unterschiedlichen Verwesungsstadien. Und alle Männer waren vergewaltigt worden.
Mehr als sich mit den brutalen Details der Geschichte zu beschäftigen, versuchte sich Cornelsen ein Bild über Rebecca Ganter, sein Mordopfer, zu machen. Allerdings war es schwierig zwischen dem zu unterscheiden, was die Autorin als Spannungselemente in den Roman hatte einfließen lassen, und dem, was sie persönlich bewegte. Falko überblätterte mehrere Seiten, stieg wieder in die Geschichte ein, filterte für sich, was ihm aussagekräftig erschien und was lediglich dem Fortkommen des Romans diente. Kurz legte er das Buch zur Seite, schloss die Augen und dachte nach. Er atmete zehnmal tief ein und aus. Konzentrierte sich auf seine Atmung, seinen Brustkorb, der sich hob und senkte. In Gedanken begann er, ab zweihundert rückwärts zu zählen. Mit jeder Zahl versank er tiefer in sich selbst, bei einhundertfünfundneunzig sah er das Bild Rebecca Ganters vor seinem geistigen Auge. Sie sah aus wie auf dem Foto, das Sarah ganz vorn in die Fallakte geheftet hatte. Es war ein Ausdruck aus dem Internet, wahrscheinlich auf einer Lesung entstanden. Rebecca Ganter, mit scheuem Gesichtsausdruck, ein introvertierter Mensch, der sich unter Menschen unwohl zu fühlen schien. Sie tauchte vor ihm auf, bereit, ihm Eintritt in ihre Welt und das Geschehen zu erlauben. Was hatte diese Frau bewogen, in ihrem Roman Männer von einem Täter vergewaltigen zu lassen? War sie selbst einem Missbrauch zum Opfer gefallen und verarbeitete so ihre Pein, ihre Gedanken und Ängste? Cornelsen spürte, dass seine Konzentration schwand. Zu rasch stellte er zu viele Fragen, verlor dabei seine innere Ruhe. Rebecca Ganters Bild wurde schwächer und löste sich schließlich ganz auf. Falko ging gedanklich einen Schritt zurück, einhundertvierundneunzig, atmete ein, sein Brustkorb hob sich, atmete aus, der Brustkorb senkte sich. Einhundertdreiundneunzig, Atmung, einhundertzweiundneunzig, einhunderteinundneunzig, einhundertneunzig – Rebecca Ganter kehrte zurück. In rascher Abfolge tauchten Bilder vor ihm auf. Ein Container, Männerleichen, Rebecca Ganters Leiche, ihr Schreibtisch, der umgekippte Stuhl, ein halbvoller Becher Kaffee, der Staubsauger, auf dem Boden liegende Manuskriptseiten. Cornelsen schlug die Augen auf. Manuskriptseiten! Bisher hatten sie ihnen keinerlei Bedeutung beigemessen. Sicher hatten die Kollegen von der Spurensicherung Fingerabdrücke von diesen Seiten genommen. Doch warum lagen sie auf dem Boden? Hatte der Täter sie dort hingeworfen? Oder Rebecca Ganter selbst? Und wie lange hatte sich der Mörder bei ihr aufhalten müssen, um die Passagen zu lesen, die er als Vorlage für ihre Ermordung nutzte? Falko versuchte, alles zu rekapitulieren: das erste Buch – die toten Pfleger, vergewaltigt und durch Strangulation ermordet. Das zweite Buch – die ermordeten Krankenschwestern, zwangsernährt und zu Tode gefoltert. Im neuesten Roman, dem dritten Buch, das der Mörder nur in Manuskriptform lesen konnte, ging es um Gutachterinnen, die erstickt waren, weil ihnen Tampons in die Nasenlöcher gestopft und der Mund mit Sekundenkleber verklebt wurde. Falko versuchte zu begreifen, was Rebecca Ganter bewogen hatte, zu schreiben, was sie schrieb. Und wie viel hatte der Täter lesen müssen, um zu erfahren, was er wissen musste? Und warum hatte er nicht abwarten wollen, bis
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