Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
bei der Sache? Es wurde immer verworrener.
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Kerstin fühlte sich wie in Trance. Aus der Nachbarzelle hörte sie, dass Nicole immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wurde. Sabine war tot, und sie selbst und Nicole hatten ihm geholfen, sie zusammen mit ihrem toten Kind in die Decke zu hüllen und auf die Schubkarre zu hieven. Kerstin hatte sich übergeben müssen, als sie wieder in ihrer Zelle war, und ihr Magen schien nicht aufhören zu wollen, gegen die unbegreiflichen Bilder, die sie wieder und wieder vor ihrem inneren Auge sah, zu rebellieren. Würde es ihr genauso gehen? Würde sie ihr Kind in diesem Drecksloch gebären müssen und elendig dabei verrecken? Sie lag zusammengerollt auf ihrer Pritsche. Er hatte ihnen die Decken gelassen, die sie sich während der Geburt über ihre nackten Körper gelegt hatten, sie in ihre Zellen zurückbefohlen und hinter ihnen abgeschlossen. Dann hatte er die Schubkarre mit der toten Fracht die Stallgasse hinuntergeschoben, quietschend das Tor geöffnet und wieder hinter sich verschlossen. Seither war alles ruhig. Er war nicht zurückgekehrt, und Kerstins Gedanken drehten sich um nichts anderes mehr als ihren nahenden Tod. Doch viel mehr als das bevorstehende Ende graute ihr vor der Unwürdigkeit und erniedrigenden Situation, ihr Kind auf dem kalten Boden zu bekommen und dabei zu sterben, während er zusah und sie filmte. Ungerührt hatte er seine Kamera ausgeschaltet und das Stativ weggeräumt, als Sabine schon über eine halbe Stunde tot war. So lange hatten Kerstin und Nicole neben ihr und ihrem toten Baby am Boden gekauert, geweint und still für sie und sich selbst gebetet. Kurz war die Wut übermächtig geworden, und Kerstin hatte Nicole überreden wollen, ihn zu überwältigen, wenn er sie holen kommen würde, um sie wieder in ihre Zellen zu sperren. Doch ein Blick auf die am ganzen Körper zitternde Nicole genügte Kerstin, um zu wissen, dass sie allein dastand. In diesem Zustand könnte Nicole ihr keine Hilfe sein, und sie selbst konnte nicht riskieren, dass er mit Schlägen oder Tritten ihr Ungeborenes tötete, um sie zu bestrafen.
Doch sosehr sie auch versuchte, sich zu beruhigen und wieder zu fangen, um die Situation zu überstehen, sowenig gelang es ihr. Krampfhaft bemühte sie sich, an etwas Schönes zu denken. Ganz so, wie sie es früher gemacht hatte, wenn die Schreie ihrer Mutter an ihr Ohr gedrungen waren, und sie sich an wunderbaren Orten weit, weit weg wähnte. Damals hatte sie das Bild eines Wasserparks vor Augen, den sie mal in einer Werbeanzeige gesehen hatte. Endlose bunte Rutschen, ineinander verschlungen, darauf Kinder mit Gummireifen, die sich lachend und kreischend in das Wasser stürzten. Es war das Bild, das sie sich als Kind wieder und wieder vor Augen geführt und in ihr Gedächtnis gerufen hatte in den furchtbaren, nicht enden wollenden Momenten. Es hatte ihr geholfen, sich abzulenken, die Schmerzenslaute nicht mehr zu hören. Verzweifelt versuchte sie auch jetzt, sich dieses Bild vor Augen zu führen, doch immer wieder sah sie Sabine vor sich. Sabine und ihr totes Kind, auf der schmutzigen Schubkarre in eine Decke eingerollt. Kerstin riss die Augen auf, starrte an die Stallwand. Sie spürte Schmerz in jeder Faser ihres Körpers, jedem Muskel, sogar in den Augen. Sie hatte keine Kraft mehr. Wie war sie nur hier hineingeraten? Tränen lösten sich aus ihren Augenwinkeln und tropften auf die Pritsche. Ohne einen Laut von sich zu geben, weinte sie. Sie weinte um Sabine, um das tote Kind, um sich selbst und ihr Baby. Um das Leben, das sie, ihr Mann und ihr Kind gehabt hätten. Sie war am Ende ihrer Kraft. Sollte er doch zurückkommen und dem Ganzen ein Ende setzen. Es war das Beste so. Ein kurzer stechender Schmerz fuhr durch ihren Unterleib, ließ sie zusammenfahren. Schnell legte sie eine Hand auf ihren Bauch. Deutlich spürte sie jetzt, wie das Kind sich bewegte, wie ein kleiner Fuß ihre Hand traf. Ein warmes Gefühl machte sich in ihr breit, als sie ihre Hand noch etwas fester gegen den Bauch presste und die Berührung von innen erwidert wurde. Ohne zu wissen woher, strömte neue Hoffnung in ihren Körper, neuer Lebensmut. »Ja, mein Schatz«, flüsterte sie. »Du hast vollkommen recht. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht. Ich hole uns beide hier raus.«
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Mittwoch, 7 . August, 19 . 50 Uhr
Es würde eine lange Nacht werden. Harald Kunst hatte Falko durch die Gänge des alten Rotsteingebäudes gelotst, das ihn von
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