Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
der Wasserflasche nahm, bevor er zu Fuß den Rest des Weges zurücklegte. Noch bevor der Beamte, der ihn kommen sah und Anstalten machte, ihm den Durchgang zu verwehren, etwas sagen konnte, zückte er seinen Dienstausweis.
»Kriminalhauptkommissar Cornelsen, Kripo Lüneburg. Oberkommissar Kunst erwartet mich.«
Sofort gab der Beamte den Weg frei. »Er ist dort hinten, ein Stück weiter oben.«
»Danke.«
Falko stieg die kleine Anhöhe hinauf und ließ die Stimmung, die vorherrschte, auf sich wirken. Es war für ihn immer wieder faszinierend zu beobachten, wie unterschiedlich es an Tatorten zuging. Hier war eindeutig die Beklemmung über die aufgefundene Frauenleiche spürbar. Falko wusste noch nicht, auf welche Art die Frau zu Tode gekommen war, doch wenn er das Unbehagen der Beamten richtig deutete, hatte es etwas Qualvolles an sich.
Einer der Männer in den weißen Overalls sah auf, als er Falko kommen sah, und ging auf ihn zu. Er war ungefähr einen halben Kopf kleiner als er, hatte aber in etwa das gleiche Gewicht. Unter der weißen Kapuze konnte Cornelsen die Haarfarbe nicht richtig erkennen, glaubte aber, dass sie eher dunkel war.
»Kriminalhauptkommissar Cornelsen?«
Falko streckte ihm die Hand entgegen. »Ganz recht. Oberkommissar Kunst?«
Er nickte. »Ich habe erst in einer halben Stunde mit Ihnen gerechnet. Vielen Dank, dass Sie sich das hier ansehen und uns helfen wollen.«
»Ich hoffe, es gelingt mir.«
Oberkommissar Kunst ließ Falko einen weißen Overall und Schuhüberzüge geben. Dann gingen sie zu dem Leichnam hinüber. Sie blieben stehen, als sie das Erdloch erreichten. Falko trat bis an den Rand und sah hinab. Auf den Anblick, der sich ihm bot, war er nicht gefasst gewesen. Eine Frau, in eine Decke gehüllt, mit einem Baby auf ihrem Bauch, um das ihre Arme gelegt worden waren.
»Ein Kind?« Es klang etwas schrill, und Falko hatte Mühe, das Beben in seiner Stimme zu vertreiben.
»Eine Frau und ihr Neugeborenes.« Kunst presste die Luft aus seiner Lunge. »Ich glaube, etwas derartig Schockierendes habe ich noch nie gesehen.«
Falko rang um Fassung, wollte sich zwingen, sich auf die Fakten zu konzentrieren. »Schließen Sie aus der Größe des Säuglings, dass es sich um ein Neugeborenes handelt?«
Ohne ein Wort bückte sich Harald Kunst und hob im Schambereich die Decke kurz an, in die der Leichnam gewickelt war. Falko nickte nur und machte einen Schritt zurück. In dem kurzen Moment hatte er gesehen, dass die Nabelschnur noch immer aus dem Leichnam heraushing und Mutter und Kind verband. Cornelsen bezweifelte, diesen Anblick allzu rasch wieder aus seinen Gedanken verdrängen zu können.
Oberkommissar Kunst kam wieder an seine Seite. »Was sagen Sie dazu? Haben Sie schon einmal etwas Vergleichbares gehabt?«
Falko schüttelte den Kopf. »Wann wurde sie gefunden?«
»Etwa eine Stunde bevor wir telefoniert haben.«
»Und wer hat sie gefunden?«
»Ein Spaziergänger. Sie müssen wissen, das Grab war nicht mit Erde bedeckt worden. Er hat sie genau so vorgefunden, wie wir sie jetzt sehen.«
»War das bei Natascha Wending genauso?«
»Nein, sie war vollständig mit Erde bedeckt.«
»Verstehe«, raunte Falko. »Hat der Gerichtsmediziner schon etwas zu Todeszeit und -ursache gesagt?«
»Sie ist noch nicht lange tot, weniger als einen Tag. Die Todesursache werden wir erst erfahren, wenn der Leichnam obduziert wurde.«
»Wissen Sie schon, wer die Tote ist?«
»Ihr Name ist Sabine Nickel. Sie wurde vor einem Monat von ihrem Mann als vermisst gemeldet.«
»Was war sie von Beruf?«
»Floristin.«
»Floristin? Ist das die Floristin, die Sie damals am Telefon erwähnt hatten?«, vergewisserte sich Falko. »Also kein Pflegeberuf.« Er dachte nach, sah auf die junge Frau mit ihrem Baby. »Aber es ist sicher derselbe Fundort wie bei Natascha Wending, der Gutachterin?«
»Ja, es ist diese Floristin. Und ja, es ist ganz sicher derselbe Fundort.«
Falko trat ein paar Schritte beiseite, um nicht weiter auf die Tote sehen zu müssen. Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Wenn die Frau erst vor etwa einem Tag gestorben war und dann hier abgelegt wurde, konnte Rafael Langer nicht der Täter sein. Aber es war dasselbe Grab. Wo machte er den Denkfehler?
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment«, bat er und ging zu einer Bank, die in der Nähe stand. Er setzte sich, lehnte sich an, betrachtete das Grab aus dieser Entfernung. Dann stand er wieder auf, stellte sich auf die Bank, sah sich um,
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