Sekundentod: Kriminalroman (German Edition)
der Art und Struktur an das in Lüneburg erinnerte. Für einen Fremden sah jeder der Flure aus wie der andere. In seinem Büro angekommen, bot Kunst seinem Kollegen etwas zu trinken an.
»Ein Wasser wäre gut. Danke.«
Oberkommissar Kunst verschwand kurz, und Falko nutzte die wenigen Minuten, sich zu sammeln. Er war erschöpft von der Fahrt, vor allem aber von dem Schwall an Eindrücken, die durch den Leichnam der Mutter mit ihrem Baby über ihn hereingebrochen waren.
Ohne Näheres über ihn zu wissen, wanderten Falkos Gedanken zum Ehemann der Frau, der nun ihren Tod und den des Kindes obendrein verkraften musste. Cornelsen würde nicht einmal erahnen können, was in diesem jetzt vorgehen musste. Er schloss einen kurzen Moment die Augen, zählte sich herunter, um zu seiner Konzentration zurückzufinden. Dann öffnete er die Augen wieder und sah sich um. Das Büro seines Kollegen war mit genau den schlichten grauen Möbeln bestückt, die Falko verabscheute. Der Raum hatte nichts Persönliches, außer die Fotos auf dem Schreibtisch, von denen Cornelsen aus seinem Winkel jedoch nur die Rückseite sehen konnte. Gerade wollte er aufstehen, um nachzusehen, als die Tür aufging und Oberkommissar Kunst wieder hereinkam.
»Ich habe einen Kollegen gebeten, uns auch etwas zu essen zu besorgen. Es wird bestimmt ein bisschen dauern.«
»Das ist nett von Ihnen«, dankte Falko, wartete, bis Harald Kunst die Gläser gefüllt hatte und nahm seines entgegen. Sie tranken, dann holte Kunst einen Stapel Unterlagen und breitete sie auf dem Besprechungstisch aus.
»Das ist alles, was wir über die Morde haben.«
Falko zog die Aktenmappe mit den Kopien hervor, die er aus Lüneburg mitgebracht hatte. »Ich lege das, was wir im Mordfall Rebecca Ganter haben, ebenfalls dazu.«
Sie setzten sich, sortierten die Unterlagen und besahen die Fotos. Auch die, die heute am Fundort der Leichen gemacht worden waren, lagen bereits vor.
»Der Mörder hat gewollt, dass diese Leichen so schnell wie möglich gefunden werden«, sagte Falko.
»Ich habe vorhin mit unserem Gerichtsmediziner telefoniert. Er wird gemeinsam mit einem Kollegen die Nacht durcharbeiten, um die Autopsien von Mutter und Kind möglichst schnell abschließen zu können.«
Falko blickte auf. »Die wichtigste Frage derzeit ist, wie die Mutter umkam und ob er beim Kind Gewalt angewendet oder es einfach unversorgt gelassen hat und es deshalb gestorben ist.«
»Was denken Sie, könnte dahinterstecken?«
Cornelsen schob drei Fotos nebeneinander und deutete darauf. »Sie hatte eindeutig eine Sonderstellung für ihn.« Er zog eines der Tatortfotos hervor, auf dem die Leiche Natascha Wendings zu sehen war, und betrachtete es. »Andererseits war er bei Sabine Nickel wesentlich bemühter. Er hat sie nicht einfach nur abgeladen, sondern ihr auch noch die Haare gekämmt, die Decke ordentlich vor dem Leib verschlossen und die Arme um ihr Kind gelegt.« Wieder überlegte er kurz. »Ich frage mich, ob er die Mutter wirklich eingeplant hatte.«
»Aber warum hat er sie nicht woanders abgelegt oder verscharrt? An einem Ort, wo er zuvor keine Leiche vergraben hat? Dann hätten wir bestimmt nicht gleich einen Zusammenhang hergestellt.«
»Weil ihm die Polizei egal ist.« Falko sah Kunst an. »Er gehört nicht zu den Tätern, die damit irgendetwas beweisen wollen. Er macht das nur für sich. Und zwar aus einem ganz bestimmten Grund.«
»Und welchem?«
»Ich weiß es nicht. Allerdings …« Er brach ab.
»Was ist?«
Falko tippte nachdenklich auf das Foto. »Vielleicht musste er improvisieren. Es wäre möglich, dass er nicht davon ausgegangen ist, so schnell ein neues Grab zu brauchen.«
»Weil sie zu früh gestorben sind?«
»Möglich.«
»Vielleicht hat er nicht damit gerechnet, dass das Kind schon kommt oder dass bei der Geburt irgendetwas schiefgehen könnte.«
»Bei Geburten kann immer etwas schiefgehen«, maulte Kunst. »Deshalb sollte man Kinder ja auch im Krankenhaus bekommen und nicht in irgendeiner Höhle, in die ein Irrer die Schwangere verschleppt.«
»Aber warum hat er sie an diesem Ort begraben und nicht einfach irgendwo anders? Er hätte sie ebenso gut in den Fluss werfen können.«
Immer deutlicher wurde das Bild, das Falko vor sich sah. Ihm war, als setzte sich der Charakter des Mörders nach und nach wie ein Mosaik vor seinem geistigen Auge zusammen.
»Er kannte diesen Ort. Er musste eine schnelle Lösung finden, wollte der Toten aber eine gewisse Würde geben. Die
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